Blood Lily Chronicles 03 - Versuchung
weil die Konvergenz beim nächsten Vollmond bevorstand. Und wenn ich nicht total danebenlag, war es bis dahin nicht einmal mehr eine Woche.
»Scheiße«, sagte ich und durchwühlte meinen einstmals makellosen, jetzt ziemlich mitgenommenen Trenchcoat nach Kleingeld. Natürlich Fehlanzeige. »Hast du einen Vierteldollar?«
Rose sah in ihrer Jeansjacke, dann in den Hosentaschen nach. »Nein.« Ich überlegte kurz, dann zog ich an der Klappe des Automaten, die sich nach einigem Widerstand auch öffnen ließ. Ich schnappte mir eine Zeitung und ging rasch weiter. Rose lief neben mir her. »Was suchst du denn?«
»Die Wettervorhersage«, antwortete ich und gab ihr die Teile, die mich nicht interessierten. »Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Mondphasen und so weiter.« Ich blätterte die Seiten durch, bis ich schließlich das Gesuchte fand. Ich blieb kurz stehen, um den Text zu überfliegen, und fluchte, als sich meine Befürchtungen bestätigten. »Fünf Tage noch. In genau fünf Tagen ist wieder Vollmond.«
»Fünf Tage?« Ihre Stimmlage hob sich vor Unglauben. »Aber ... aber ... wir hatten eigentlich doch noch zwei Wochen Zeit.«
»Jetzt nicht mehr«, entgegnete ich grimmig.
»Verdammter Mist!«, stöhnte sie. Dem konnte ich mich nur anschließen. »Und wann genau? Morgendämmerung? Sonnenuntergang? Mitten in der Stoßzeit?«
Das war eine wirklich gute Frage. Und jetzt hätte ich mir gewünscht, Deacon wäre hier, um mir bei der Suche nach der Antwort zu helfen.
»Clarence hat behauptet, das Portal zwischen der Hölle und unserer Welt würde sich über Boston auftun, und zwar beim nächsten Vollmond.«
»Ja, das weiß ich auch. Glaubst du ihm immer noch?«
In Anbetracht der Tatsache, dass Clarence, mein froschgesichtiger dämonischer Betreuer, Penemues rechte Hand gewesen war und mich von vorne bis hinten angelogen hatte, war die Frage berechtigt. »In diesem Punkt schon. Er hatte keinen Grund, mich wegen Ort und Tag anzulügen.«
»Und wie weiter? Wann genau es so weit ist, wissen wir deshalb immer noch nicht. Oder wo genau.«
»Ich vermute, bei Mondaufgang«, sagte ich und überflog die Zeitung. »Das wäre um 12:04 Uhr mittags. Fast noch ein ganzer Tag beim Teufel.«
»Mittags?« Roses Stimme schwoll an. »Wie kann der Mond mittags schon aufgehen?«
»Wegen ...« Ich wedelte mit den Händen und versuchte, mich an den Astronomieunterricht an der Highschool zu erinnern. »Na deswegen eben.«
»Was ist, wenn du danebenliegst?«
»Ich liege nicht daneben.« Ich bemühte mich, selbstsicherer zu klingen, als ich es tatsächlich war. »Aber ich lasse mir noch was einfallen, wie ich das überprüfen kann.«
»Und wo?« Rose lief mir nach, weil ich schon wieder losmarschiert war.
»Mach mal ’ne Pause, Rose!«, fauchte ich sie an. Ich brauchte die Antworten sofort, hatte sie aber nicht, deshalb war ich genervt. »Wir lassen uns was einfallen.«
Gott sei Dank brauchte ich keinen Schlaf mehr, denn dafür hätte ich ganz bestimmt nicht auch noch Zeit gehabt.
Trotz der späten Stunde war die Straße hell erleuchtet. Die funkelnden Neonschilder der Bodegas, Cafes, Pornoläden und Tattoostudios tauchten die schmutzige Fahrbahn in einen künstlichen Schein. Wir waren nur noch zwei Blocks von unserem Ziel entfernt, und ich wurde immer schneller. Eine konkrete Angst oder Befürchtung hatte ich nicht, dennoch wollte ich runter von der Straße. Ich war nervös und ruhelos, wie ein Junkie, der dringend den nächsten Schuss braucht. Unterwegs blickte ich in alle dunklen Winkel, ständig auf der Suche nach etwas, das nicht hierher gehörte. Dämonen. Bestien, die ich töten konnte, um die Mordlust zu befriedigen, die so mächtig in mir aufwallte.
Ich drängte dieses Bedürfnis zurück und konzentrierte mich voll auf das Treffen mit Madame Parrish. Wir waren fast da, und die Vorfreude, mich neben sie zu setzen und mich mit ihr zu unterhalten, ließ meine Schritte noch länger werden. Sie war eine merkwürdige Person, der es gelungen war, direkt aus meinem Kopf einige meiner Geheimnisse zu pflücken. Ihr zu misstrauen, war mir allerdings nie in den Sinn gekommen. Vermutlich war ich naiv, aber etwas an ihr erinnerte mich an meine Mutter. Oder zumindest an irgendeine Mutter. Ich mochte dieses Gefühl, das nur dank eines generellen Mangels an Vertrauen und Glauben gedeihen konnte. Würde ich anfangen, diese Empfindung zu analysieren, würde ich keine Rechtfertigung finden können, und das Gefühl der Sicherheit, das ich in
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