Blood Lily Chronicles 03 - Versuchung
Wirklichkeit werden. Ein Horror jenseits allen Vorstellungsvermögens.
Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ich dazu bereit sein würde, nicht einmal für Rose. Nicht nach allem, was ich gesehen und gefühlt hatte.
Meine Schwäche wollte ich mir jedoch weder eingestehen noch - schon gar nicht - überwinden. Aber die Zeit lief mir davon. Mir blieben noch fünf Tage. Fünf Tage, um nach einer anderen Lösung zu suchen.
Magere fünf Tage, um Deacon zu finden. Und den Schlüssel, an dessen Existenz er so eisern glaubte.
Die Tür des Tattoostudios wurde von einem altmodischen Aschenbecher offen gehalten, der entweder an diesem Abend stark in Anspruch genommen oder schon lange nicht mehr ausgeleert worden war. Das von Hand geschriebene Schild Madame Parrish, Medium stand in der Auslage. Erleichtert seufzte ich auf. Endlich ging einmal etwas nicht schief.
Als wir das Studio betraten, war drinnen trotz der späten Stunde erstaunlich viel los. Mindestens ein halbes Dutzend Leute hielten sich im Vorraum auf und blätterten Joes Vorlagenbücher durch auf der Suche nach dem perfekten Bild, mit dem sie ihre Körper schmücken lassen wollten.
Rose schaute auf den Wandschirm, hinter dem John an seinem momentanen Kunden arbeitete. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Soll ich es noch mal machen lassen?«
Ich zögerte mit der Antwort. Früher war es mir wichtig, dass Rose etwas Handfestes hatte, etwas Greifbares, das sie daran erinnern sollte, wer sie ihrem Wesen nach war, egal welche abscheulichen Dämonen ihren Körper gerade als Trittbrettfahrer nutzten.
Und in Roses Fall war der Typ ein ziemlich übler Kerl gewesen: Lucas Johnson war der Mann, der sie verfolgt und vergewaltigt hatte, der sie misshandelt und brutal geschlagen hatte. Ein Mann, dem die Justiz nicht Herr geworden war.
Ein Mann, der sich als Dämon entpuppte.
Es war uns gelungen, ihn aus ihrem Körper zu vertreiben, aber zu einem sehr hohen Preis - sie hatte ihren Körper, in dem sie vierzehn Jahre lang gelebt hatte, aufgeben müssen. Und wenn sie jetzt, da sie in einen anderen Körper geschlüpft war, erneut eine Tätowierung wollte, konnte ich ihr das kaum abschlagen.
»Willst du es denn?«
Sie spitzte die Lippen, wodurch sie trotz Kieras Körper unglaublich jung und unschuldig wirkte. Sie hatten einen Blick, an dem die vielen Kämpfe nicht spurlos vorübergegangen waren, und ein kantiges Gesicht, auf dem sich deutlich Selbstbewusstsein abzeichnete. Wahrlich nicht das Aussehen, das ich je von meiner kleinen Schwester erwartet hätte, aber ich musste zugeben, es stand ihr wirklich gut. Sie sah aus, als könnte sie selbst auf sich achtgeben. Bisher war das nur Illusion. Aber zumindest eine Illusion, die meine Stimmung hob.
Schließlich entspannte sie sich und schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie sah mich an. »Ich weiß, wer ich bin. Dafür brauche ich kein Tattoo mehr.«
Weiter so, kleine Schwester!
Ich legte ihr einen Arm um die Schultern. »Na, dann komm.«
Wir gingen um die Gruppe herum, die die Vorlagen betrachtete, und blieben vor einem Bereich stehen, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Ich klopfte leicht gegen die Wand und hoffte, Madame war nicht gerade mit einem Kunden beschäftigt. Ihre sanfte Stimme grüßte uns und bat uns herein. Ich schob den Vorhang beiseite, dann traten wir ein, tauschten das grelle Licht und die Geschäftigkeit in Johns Bereich gegen die behagliche Gemütlichkeit, die Madame Parrishs Nische auszeichnete.
Ich entdeckte sie sofort, die kleine, runzlige Gestalt, die von einem Ohrensessel mit Blumenmuster geradezu verschluckt wurde. Sie schaute auf mit ihren sanften Augen, ließ das Buch, das sie gerade las, auf ihren Schoß sinken und streckte mir die freie Hand entgegen. »Lily, Kindchen! Schön, Sie wiederzusehen!«
»Danke, gleichfalls.«
»Und Rose ist auch da.« Sie schüttelte meiner Schwester die Hand, dann neigte sie den Kopf. »Hab keine Angst, Kleines! Du hast jetzt die Figur einer Kriegerin. Und bald schon wirst du auch den Mut einer Kriegerin haben.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und zwang mich, ruhig zu bleiben. Rose mochte ja im Körper einer Dämonenkillerin stecken, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie in Kieras Fußstapfen treten sollte. Mir gefiel der Gedanke, dass Kieras Körper sie behüten würde, falls sie einmal in der Patsche saß. Wenn es nach mir ging, sollte Rose allerdings gar nicht erst in diese Situation kommen. Sie war meine kleine Schwester. Meine Aufgabe
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