Blood Shot
eine altmodische Zugbrücke über den Calumet führt. Wenn in South Chicago die Zeit 1945 stehengeblieben ist, dann liegt die East Side seit Woodrow Wilson unter einer Formaldehydschicht begraben. Lediglich fünf Brücken verbinden diese Gegend mit dem Rest der Stadt. Die Menschen dort leben in beschränkter Zurückgezogenheit, als wären sie aus den Dörfern ihrer osteuropäischen Großeltern nie herausgekommen. Sie mögen die Leute von der anderen Seite des Flusses nicht, u nd jemand, der nördlich der Ein undsiebzigsten Straße lebt, wird hier nicht besser empfangen als ein russischer Panzer. Unter den mächtigen Betonpfeilern des Interstate Highway fuhr ich bis zur Hundertsechsten Straße. Die Ewing Avenue, in der Louisas Eltern wohnten, lag südlich davon. Ich rechnete damit, daß ihre Mutter zu Hause war, und hoffte von ihrem Vater das Gegenteil. Vor einigen Jahren hatte er die kleine Druckerei aufgegeben, aber er war nach wie vor aktives Mitglied bei den Knights of Columbus, einer wohltätigen Gesellschaft römischkatholischer Männer, sowie bei einem Veteranenverein, und es war gut möglich, daß er mit seinen alten Kameraden beim Mittagessen war.
Entlang der Straße stand ein gepflegtes Häuschen neben dem anderen auf zwanghaft ordentlichen Grundstücken. Kein Fetzchen Papier lag auf der Straße. Art Jurshak kümmerte sich höchst liebevoll um diesen Teil seines Bezirks. Regelmäßig wurden die Straßen gereinigt und ausgebessert. Hier gab es nicht wie sonst überall in South Chicago Schlaglöcher an den Stellen, wo der Asphalt geplatzt war. Als ich aus dem Auto stieg, hatte ich das Gefühl, daß es besser gewesen wäre, wenn ich mich vor meinem Aufbruch einer gründlichen Reinigung unterzogen hätte.
In den Fenstern auf der Vorderseite des Djiak-Hauses leuchteten die Vorhänge in der matten Sonne, und die kleine Veranda vor dem Haus glänzte vom vielen Schrubben. Ich klingelte und sammelte Energie für die Unterhaltung mit Louisas Eltern.
Martha Djiak kam an die Tür, die gerunzelte Stirn in dem breiten, faltigen Gesicht hätte jeden Hausierer in die Flucht geschlagen. Nach einem Augenblick erkannte sie mich, und das Stirnrunzeln verlor etwas von seiner Strenge. Sie öffnete die innere Tür, und ich sah, daß sie eine Schürze über dem gestärkten Kleid trug. Zu Hause hatte ich sie nie ohne Schürze gesehen.
»Hallo, Victoria. Ist lange her, daß du mit der kleinen Caroline hier warst, nicht wahr?«
»Allerdings«, stimmte ich ohne jede Begeisterung zu.
Louisa hatte Caroline nie allein zu ihren Großeltern gehen lassen. Wenn sie selbst oder Gabriella zu beschäftigt gewesen waren, hatte sie mir einen halben Dollar für den Bus und den strikten Befehl gegeben, Caroline keinen Moment aus den Augen zu lassen. Ich habe nie verstanden, warum Mrs. Djiak nicht selbst kommen und Caroline abholen konnte. Vielleicht hatte Louisa befürchtet, ihre Mutter würde das Kind nicht mehr hergeben, damit es nicht mit einer alleinstehenden Mutter aufwachsen mußte.
»Wenn du schon einmal da bist, möchtest du vielleicht eine Tasse Kaffee.« Das klang nicht gerade überschwenglich, aber ein warmherziger Mensch war sie noch nie gewesen.
Ich nahm die Einladung mit soviel guter Laune an, wie ich aufbieten konnte. Sie öffnete mir die äußere Tür, darauf bedacht, daß sie die Glasscheibe nicht mit der Hand berührte. Ich schlüpfte so unauffällig wie möglich hinein und dachte daran, in dem kleinen Flur die Schuhe auszuziehen, bevor ich ihr in die Küche folgte. Wie ich gehofft hatte, war sie allein. Vor dem Herd war das Bügelbrett aufgestellt, ein Hemd lag darauf. Sie faltete es ordentlich und behend, legte es in den Wäschekorb und klappte das Bügelbrett zusammen. Nachdem alles in der kleinen Kammer hinter dem Kühlschrank verstaut war, stellte sie Wasser auf.
»Ich habe heute morgen mit Louisa gesprochen. Sie sagte, daß du gestern bei ihr gewesen bist.«
»Ja«, gab ich zu. »Es ist hart, jemanden, der so voller Leben war, krank im Bett zu sehen.«
Mrs. Djiak löffelte Kaffee in die Kanne. »Viele Leute haben aus geringerem Anlaß mehr zu leiden.«
»Und viele Leute führen sich auf wie Attila der Hunne und kriegen nicht mal 'nen Kratzer ab. Geschenkt, oder?«
Sie nahm zwei Tassen von einem Regal und stellte sie steif auf den Tisch. »Wie ich gehört habe, arbeitest du jetzt als Detektiv. Nicht gerade Frauenarbeit, oder? Wie Caroline. Die arbeitet in der Gemeindeentwicklung oder wie immer das heißt. Ich
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