Blood Shot
gekommen seien.
»Vermutlich hat Curtis sie reingelassen«, sagte sie steif.
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und sah sie nachdenklich an. Vielleicht war heute nachmittag niemand hier eingedrungen. Vielleicht ergriff sie die Gelegenheit, die ihr das Verschwinden ihres Bruders bot, um sich für all die Jahre zu rächen, die er in der Praxis ihres Vaters herumgepfuscht hatte. Oder sie hatte in der Aufregung der letzten Tage einfach nur vergessen, wo sie die getippten Notizen hingetan hatte. Schließlich war sie fast achtzig. Ich versuchte, sie auf die Probe zu stellen, nicht sehr geschickt.
Sie runzelte erbost die Stirn. »Junge Frau, behandeln Sie mich nicht wie ein seniles altes Weib. Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten. Ich sah, wie Curtis vor fünf Tagen versuchte, die Aufzeichnungen zu verbrennen. Ich kann Ihnen sogar die Stelle zeigen, wo der Papierkorb ein Loch in den Teppich gebrannt hat. Warum er sie vernichten wollte, weiß ich nicht. Auch nicht, warum er sich hier eingeschlichen hat, um sie zu stehlen. Aber beides ist geschehen.«
Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Ich stand auf und sagte, daß ich das Haus unter die Lupe nehmen müsse. Sie reagierte frostig, führte mich aber herum. Sie hatte die Unordnung in den Regalen offenbar beseitigt, aber weder Staub gesaugt noch abgestaubt. Nach gewissenhafter Suche fand ich schließlich Spuren getrockneten Schlamms auf dem Teppich im Treppenhaus. Ich war mir nicht sicher, was das bewies, aber ich war hundertprozentig davon überzeugt, daß der Schlamm nicht von Miss Chigwell stammte. An keinem der Schlösser waren Spuren von Gewaltanwendung zu entdecken.
Ich hielt es nicht für angezeigt, daß sie die Nacht allein im Haus verbrachte; jeder, der einmal so problemlos hier eingedrungen war, konnte - mit oder ohne Mr. Chigwell - zurückkehren.
»Niemand wird mich aus meinem Haus vertreiben. Ich bin hier aufgewachsen, und ich werde auch jetzt hierbleiben.« Sie warf mir einen finsteren Blick zu.
Ich tat mein Bestes, sie umzustimmen, aber es war alles vergebens. Entweder hatte sie Angst und wollte es nicht zugeben, oder sie wußte, warum ihr Bruder die Aufzeichnungen unbedingt in seinen Besitz bringen wollte. Aber in diesem Fall hätte sie mir nicht die Originale gegeben.
Ich schüttelte irritiert den Kopf. Ich war erschöpft, meine Schultern schmerzten, und an der Stelle, an der man mir auf den Kopf geschlagen hatte, pochte es leicht. Falls Miss Chigwell nicht die Wahrheit sagte, würde ich es heute nacht nicht mehr herausfinden. Ich mußte ins Bett. In der Tür kam mir ein Gedanke.
»Bei wem ist Ihr Bruder jetzt?«
Sie wirkte verlegen - sie wußte es nicht. »Ich war überrascht, als er mir eröffnete, daß er zu Freunden gehen wollte, weil er nämlich keine hat. Am Mittwochnachmittag, zwei Stunden, nachdem er aus dem Krankenhaus zurück war, bekam er einen Anruf, und kurz danach verkündete er, daß er für ein paar Tage woanders wohnen wolle. Er verließ das Haus, während ich im Krankenhaus arbeitete, und deswegen habe ich keine Ahnung, wer ihn abgeholt hat.«
Ebensowenig wußte sie, wer ihren Bruder angerufen hatte. Es war ein Mann gewesen, das wußte sie, weil sie zur gleichen Zeit wie Curtis am anderen Apparat abgehoben hatte. Aber als sie hörte, daß der Mann mit ihrem Bruder sprach, hatte sie sofort wieder aufgelegt. Wirklich schade, daß ihre strenge Moral verhindert hatte, daß sie ihren Bruder belauschte, aber in einer unvollkommenen Welt kann man nicht alles haben.
Kurz vor elf ging ich endlich. Als ich zurückblickte, sah ich ihre hagere Silhouette in der Tür. Sie hob die Hand, um zu winken, und schloß die Tür.
29
Gesindel
Erst im Auto wurde mir richtig bewußt, wie müde ich war. Die Schmerzen in meinen Schultern überwältigten mich; ich ließ mich in den Sitz sinken. Tränen der Erschöpfung und des Selbstmitleids brannten mir unter den Lidern. Leute, die aufgeben, gewinnen nie, und Leute, die gewinnen, geben nie auf - dieser Spruch unserer alten Basketballtrai-nerin kam mir in den Sinn. Ich kurbelte das Fenster herunter, mein wunder Arm führte die Befehle meines Gehirns nur langsam aus. Eine Weile blieb ich sitzen und beobachtete das Chigwell-Haus, döste ein und kam schließlich zu dem Schluß, daß niemand hinter der unbeugsamen alten Dame her war. Ich legte den Gang ein und fuhr los.
Auf dem Eisenhower Expressway ist immer Verkehr. Lastwagen donnern während der ganzen Nacht in die Stadt, Leute fahren von der
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