Bloodman
verdüstern, altern lassen. Doch hinter den zusammengezogenen Brauen und den verkniffenen Lippen starrte ihn immer noch derselbe Mensch an. Zornig. Gemein. »Ich rufe die Schwester«, sagte Jake und wandte sich zur Tür.
Er entdeckte Schwester Rachael am Ende des Ganges. Er gab ihr ein Zeichen, und sie eilte herbei. Beim Laufen hielt sie mit einer Hand das Stethoskop fest, das sie um den Hals hängen hatte. Jake dachte, dass Jacob Coleridge, der groÃe Beobachter, immer noch geistig klar genug war, um zu erkennen, dass sie tatsächlich wie Mia aussah.
Als er ins Zimmer zurückkam, nagte Jacob mit den Zähnen an seinen Bandagen wie ein Hund an einem alten Kissen. Gazefetzen sprenkelten Kinn und Brust. Hungrige Laute drangen aus seiner Kehle, während er den weiÃen Stoff zerfetzte.
»Mr Coleridge, lassen Sie mich Ihnen helfen.« Die Doppelgängerin bzw. Schwester trat vor und brachte eine Spritze zum Vorschein.
»Was zum Henker soll das bedeuten?«, fragte Jacob und versuchte, vor ihr und der Spritze zurückzuweichen, soweit es das Bett zulieÃ.
»Keine Sorge, die ist nicht für Sie.«
»Lügen Sie mich nicht an! Und hauen Sie ab damit. Sie werden mir das Ding nirgendwo reinstecken, und schon gar nicht â¦Â« Schwester Rachael stieà die Nadel in den intravenösen Schlauch und drückte den Kolben hinunter.
Jacobs Blick verschwamm, sein Mund schloss sich, und es sah aus, als würde ihm jemand die ganze Frustration mit einem Magneten aus dem Körper ziehen. Seine Muskeln erschlafften, er sank in die Kissen zurück und schloss die Augen. Dann weitete sich seine Brust mit einem tiefen Atemzug, schien ihn festhalten zu wollen, bevor sein Kopf endlich zur Seite sank.
Jake drehte sich zu der Schwester um. »Vielen Dâ¦Â«
Bevor er aussprechen konnte, in dem Blinzeln zwischen den zwei Worten des Danks, setzte sich Jacob Coleridge ruckartig im Bett auf. Das stählerne Gestell krachte gegen den Nachttisch, und Finchs Blumen klirrten in einer Kollision aus Bleikristall und Linoleum zu Boden. Die Vase zersprang in tausend Stücke, Glassplitter und Lilien sausten durch die Gegend.
Speichel und Gazefetzen befleckten Jacobs Lippen. Er blickte seinen Sohn an, danach die Schwester, schlieÃlich seine Hände. Dann stieà er einen gellenden Schrei aus, der das Fenster erzittern lieÃ, und besprühte seine Brust mit Speichel, zerkauten Bandagen und Verbitterung. Er hob einen der zerfetzten Stummel am Ende seines Arms, deutete damit auf seinen Sohn und donnerte: »Du kannst ihn nicht fernhalten! Er wird dich finden! Lauf!«
Dann sackte er zurück, als hätte ihm jemand den Stöpsel herausgezogen. Und war still.
15
Die erste Pressekonferenz war gut gelaufen, aber das Wissen, dass es nur die erste von vielen war, dämpfte Hausers momentanes Hochgefühl. Der anrückende Hurrikan war schon schlimm genug, aber irgendwie wirkte das Gespenst des Doppelmords noch viel bedrohlicher, und zwar auf weniger abstrakte Art. Dennison vom NHC hatte es geschafft, ihm einen Schrecken einzujagen, aber Jake Cole und sein Kuriositätenkabinett der Toten übertrafen selbst Dylan. Die nächsten Tage würden einen Eintrag in die Geschichtsbücher wert sein.
Hauser blieb noch eine kurze Atempause zwischen der Pressekonferenz und der Personalversammlung zu dem heraufziehenden Sturm. In dieser Zeit wollte er sich die Sache Mia Coleridge vornehmen.
Die Schachtel roch nach Keller, und das kräftige Rot der ersten Akte war zu einem fahlen Lachsrosa verblasst â die Farbe eines Kapitalverbrechens. Hauser platzierte den alten, kartonierten Ordner auf einer der wenigen freien Stellen auf seinem Schreibtisch und begann zu lesen.
Das Papier war brüchig geworden, und die rostigen Heftklammern hatten überall rotbraune Flecken hinterlassen wie eiserne Nägel in einem Schiffsrumpf. Hauser war von Natur aus ein geduldiger Mensch, was ihm in seinem Beruf zugutekam. Er fing auf Seite eins an und arbeitete die Akte langsam und methodisch durch, ohne sich Notizen zu machen oder zu versuchen, sich Details einzuprägen. Er wollte einfach so viel wie möglich über Jake Cole erfahren, um den Mann besser einschätzen zu können, mit dem er zusammenarbeiten musste. Hauser hatte schon vor langer Zeit entdeckt, dass nicht Unkenntnis gefährlich war, sondern sichere Ãberzeugung, die sich im Nachhinein als falsch erwies. Diese Logik war
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