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Bloodman

Bloodman

Titel: Bloodman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pobi
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den Zähnen die Bandagen weggerissen und seine verkohlten, gefühllosen Finger wie Palettenmesser verwendet, wobei die Knochensplitter und halbgebratener Knorpel jedes einzelnen Fingers seinem limitierten Arsenal an Ausdrucksmitteln eine neue Charakteristik verliehen hatten. Er hatte drei Finger verloren – vermutlich würden es noch mehr werden –, und Jake entdeckte mindestens sieben unterschiedliche Strichformen in dem Gemälde. Er wusste, dass die angeborene Gabe seines Vaters sich ohne Nachdenken oder Planung Bahn gebrochen hatte – sie hatte sich in der ursprünglichsten aller Arten geäußert, instinktiv .
    Das Porträt war nicht nachlässig oder ungeschickt hingeworfen wie die Fingerzeichnung eines Kindes, sondern kontrolliert, zielstrebig. Man brauchte keinen Abschluss in Kunstgeschichte, um zu sehen, welche vollkommene Kunstfertigkeit in der Ausführung lag. Das Bild besaß eine starke, raue und ehrliche Ausstrahlung, die unmöglich zu verkennen war. Aber die perfekte Ausführung war nur Beiwerk. Die Bedeutung lag im Inhalt.
    Jake ging zu dem alten Kenmore-Kühlschrank, um sich eine weitere Cola zu holen und darüber nachzudenken.
    Kein Zweifel, sein Vater hatte irgendetwas sagen wollen, selbst hinter dem nebelhaften Schleier seiner Demenz hervor. Abgehackte Beinahe-Signale drangen hindurch und formten sich fast zu … zu …
    Was?
    Die große Frage lautete natürlich: Was für einen Unterschied würde es machen, wenn es ihm gelang, herauszufinden, was der alte Mann zu sagen versuchte – falls da überhaupt etwas war? Wie bei Finnegan’s Wake musste sich der Detektiv irgendwann fragen: Was soll das Ganze?
    War dieser Mann – dieser gesichtslose Mann – die Manifestation eines psychotischen Anfalls? Schizophrene hatten häufig religiöse Visionen, warum also nicht sein Vater? Weil der alte Mann nicht an Gott glaubte. Er hatte nie an eine höhere Macht geglaubt, die über Glück oder Pech oder puren Zufall hinausging. Das Bild hatte nichts zu tun mit dem Konzept von Gott und dem Teufel. Dieses Gemälde des schwarzen Mannes war viel unmittelbarer, viel bedrohlicher als dieser ganze erfundene Mist – Jake konnte nicht sagen, woher er das wusste, sondern nur die Tatsache konstatieren.
    Er war Experte darin, Beweismittel vom Standpunkt eines Dritten zu beurteilen. Aber da hier die freudsche Vergangenheit der Coleridge-Männer ins Spiel kam, war jede Objektivität seinerseits ausgeschlossen. Niemand wusste besser als er, dass unvoreingenommene, unparteiische, unbefangene Beobachtung nur in einer Atmosphäre der Objektivität funktioniert. Angesichts einer zugespitzten Vater-Sohn-Dynamik wie hier konnten nur verzerrte Ergebnisse herauskommen.
    Was bedeutete die Studie des Mannes in Blut? Was bedeutete die Wiederholung seines Abbilds an Wänden und Decke? Warum besaß er kein Gesicht?
    Und was war mit all den Leinwänden, die in schiefen Türmen im Atelier aufgestapelt standen? Die höchsten davon mussten fast zwei Meter fünfzig messen, und kein einziger war kleiner als einen Meter achtzig. Jake schob sich zwischen den Leinwandsäulen hindurch, nahm gelegentlich ein Bild in die Hand, untersuchte es und legte es wieder fort. Er wusste, wenn sein Vater sie gemalt hatte, mussten sie einen Sinn haben. Er wollte nicht – konnte nicht – glauben, dass sie lediglich das Abfallprodukt eines an der Staffelei verbrachten Lebens sein sollten, ohne weiteren Sinn, als die Zeit totzuschlagen. Nein, zum Teufel. Unmöglich. Wenn sich Jacob Coleridge die Mühe gemacht hatte, zum Pinsel zu greifen und etwas auf die Leinwand zu werfen, dann nur, weil es etwas bedeutete.
    Ohne Scheiß, du Genie.
    Jake schleuderte die Colaflasche quer durch den Raum. Sie prallte von der Wand ab und zerschellte auf dem Betonboden. Splitter schossen in alle Richtungen davon. Er hasste es. Das Hiersein, das Sich-Auseinandersetzen mit seinem Vater, hasste den Mann mit dem Jagdmesser und seine alptraumhaften Talente.
    Und alles hing miteinander zusammen. War mit einem Zwirn verknüpft, der so fein war, dass er nicht einmal das Licht reflektierte.
    Es war unmöglich, diesen Faden zu finden, es sei denn, man lief direkt hinein. Und dann befand er sich wahrscheinlich in Halshöhe, und man spürte nur ein winziges Zwicken, bevor man den eigenen Kopf zu Boden poltern hörte und einen letzten, undeutlichen Blick auf den Körper

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