Bloodseal: Flucht ins Ungewisse (German Edition)
die meine Mum niemals ersetzen konnte. Weg von Dad, der glaubte, hier mit seiner neuen Familie ein neues Leben anfangen zu können. Und weg von meinem Talent, alles nur noch schlimmer zu machen.
Ich lief lange. An Reihenhäusern vorbei, die aussahen, als wären sie extra von Hollywood hierher gebeamt worden. Vorbei an kiffenden Jugendlichen, die mir irgendwas hinterher riefen, das ich als Hey, willste auch? aufschnappte und vorbei an einem alten Spielplatz, der eher lebensgefährlich als kinderfreundlich aussah. Bis schließlich meine Beine zu schmerzen begannen. Vor einem stillgelegten Bahnhof hielt ich inne und versuchte zu atmen.
Verdammt! Ich will das alles nicht! Vielleicht sollte ich zu den Kiffern zurücklaufen und mir eine Dröhnung von ihrem Stoff geben lassen … Quatsch! So weit ist es dann auch noch nicht mit mir!
Auf meine Knie gestützt biss ich die Zähne fest zusammen und sah mich um. Auf den rostigen Schienen standen vereinzelt alte Waggons, die ich durch das silbrige Licht des Mondes gut erkennen konnte. Von irgendwo ganz weit hinten blinzelte mir ein bläuliches Licht entgegen. Das war seltsam, aber im Moment waren mir auch solche Mysterien egal.
Die meisten der Eisenbahnwagen waren mit Graffiti verziert. Angefangen bei Tags und stilvollen Zeichnungen, die alles Mögliche darstellten, bis hin zu Animefiguren mit ihren riesigen Augen. Als ich die sich ineinander schlingenden Farbtöne angaffte wie eine Schneeflocke im Hochsommer, kamen die Erinnerungen wieder in mir hoch. Einfach so, ohne mich vorzuwarnen. Erinnerungen an Simon, der mich oft auf einen seiner Sprayer-Streifzüge durch die Stadt mitgenommen hatte, wenn er seine Werke irgendwo verewigt hatte, drängten sich in mein Bewusstsein. Er konnte auch verdammt gut zeichnen. Einmal hatte er ein Bild von mir und meiner Mum gezeichnet. Obwohl er sie nur von Fotos kannte – weil ich einfach Angst hatte, ihn mit nach Hause zu nehmen –, war es das schönste Bild gewesen, das ich je von ihr gesehen hatte. Simon war immer für mich da gewesen, wenn ich ihn gebraucht hatte. Und normalerweise wäre ich auch jetzt zu ihm gelaufen, aber das ging nicht mehr. Weil ich einfach in dieser beschissenen Stadt Hunderte von Meilen von ihm entfernt feststeckte. Und dennoch verfolgten mich die Bilder von Mums entstelltem Körper immer noch. Jede Nacht oder sobald ich die Augen schloss. Immer sah ich die Blutbäche am Boden vor mir.
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Jetzt heul hier nicht rum!
Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung. Die Hände in meine Taschen vergraben, ließ ich den Bahnhof hinter mir und kam schließlich zu einem Waldrand. Die Bäume wiegten sich in einem sanften Wind und flüsterten mir verheißungsvoll zu. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Da drinnen war es stockdunkel.
Gerade als ich weitertrotten und vielleicht einmal herausfinden wollte, wie ich wieder zurückkommen sollte, hörte ich ein Rascheln in meiner Nähe.
Ich blieb abrupt stehen, riss meinen Kopf herum und suchte die Wand aus Bäumen vor mir ab. Nichts. Oder zumindest redete ich mir das ein.
Mit hämmerndem Herzen schlich ich auf leisen Sohlen weiter. Selbst mein Schlucken übertönte alle anderen Geräusche. Aber das Rascheln blieb. Und wurde lauter.
Soll ich jetzt schreien? Um Hilfe rufen? Oder vielleicht ohnmächtig werden?
Jedes andere einigermaßen normal denkende, siebzehnjährige Mädchen hätte das vielleicht getan, aber ich nicht. Ich dachte, dass sogar mein Herz aufgehört hatte sich rühren.
„Kann der nicht einmal …“, hörte ich eine wütende Stimme direkt aus dem Wald.
Das Dickicht vor mir regte sich. Plötzlich wurde ich wie aus dem Nichts zur Seite gerissen und machte eine unangenehme Bekanntschaft mit dem Beton unter mir.
Ein Stöhnen neben mir. Mein Stöhnen?
Nein , stellte ich fest, als ich meinen Kopf mühsam zur Seite drehte. Alles vor meinen Augen schien zu einem bunten Mosaik zu verschwimmen. Und wie auf Befehl begann auch mein Herz wieder unregelmäßig zu schlagen, was dem Bild vor meinen Augen zusätzlich einen pulsierenden Effekt verlieh.
Ein Junge, etwa in meinem Alter, lag neben mir auf dem Boden und rieb sich seine Stirn. Er schien völlig außer Atem. Außerdem hatte er überall Schrammen und Kratzer.
Durch die überaus schwache Straßenbeleuchtung konnte ich sein Gesicht nur undeutlich erkennen. Es war nicht das silberglitzernde Piercing in seiner Augenbraue, das mich dazu brachte, zu denken, dass ich vielleicht
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