Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
ich traf und zu denen ich selbst gehörte, hatten alle Schlimmes erlebt. Ein Zustand, in dem man Aufmunterung, Motivation und Anregung braucht – und Zeit, um sich an das Leben mit Nicht-Behinderten wieder zu gewöhnen. Das ist schwer möglich, wenn man tagein, tagaus nur zusammen mit Behinderten und Pflegepersonal die Zeit in einer Klinik absitzt und niemals unter Leute in einer ganz normalen Fußgängerzone kommt. Jeder ist obendrein mit seinem eigenen Leid und dessen Verarbeitung beschäftigt. Es kann durchaus hilfreich sein, sich mit anderen Menschen, die Ähnliches erlebt haben, auszutauschen, denn du kannst von den anderen Menschen lernen – zum Beispiel wie sie ihr Handicap in den Griff bekommen haben. Gemeinsam bekommt man den Hintern leichter hoch und gegenseitiges Mitleid kann manchmal
Schmerzen lindern wie Opium. Was dich aber vor allem fit für das Leben macht, ist die Begegnung mit Menschen aus der »unversehrten« Welt. Die von sich erzählen und ein Stück altbekannten Alltag in die Reha-Klinik bringen. Je häufiger, desto besser.
Besuche sind aber ganz besonders bei diesen Kliniken oft mit einem immensen touristischen Aufwand verbunden, denn Reha-Kliniken liegen in der Regel etwas »ab vom Schuss«. Mal eben »Hallo« sagen, kannst du vergessen.
Um wieder auf die – vorhandenen oder nicht vorhandenen – Beine zu kommen, braucht es Begleitung und Menschen, die sich, während man selbst noch im Schock rumliegt, um verschiedene Sachen kümmern. Darauf stützt sich die Nachversorgung, die man auch als Patientenentlassungsnachsorgekonzept beschreiben könnte. Wer entlassen wird, weiß, ich kann jetzt hierhin oder dorthin gehen, und dort werde ich dann versorgt – mit einem Rollstuhl, einem Badewannenlift oder was auch immer benötigt wird. Dass es einen Anbietermarkt gibt, bedeutet aber nicht, dass alle, die in diesem Bereich arbeiten, etwas von der Sache verstehen oder sich die Mühe machen, sich einmal umzublicken. Vieles, was ich erlebt habe, empfand ich als dilettantisch. Als ich zum Beispiel meinen ersten Rollstuhl bekam, saß ich darauf wie auf einer Parkbank. Neben mir hätte prima noch jemand Platz nehmen können. Wenn Sie als Fußgänger in ein Schuhgeschäft gehen, dann möchten Sie doch auch kein Paar Schuhe kaufen, das drei Nummern zu groß ist, oder? Und wenn Ihnen dann die Verkäuferin trotz Ihrer Einwände das zu große Paar Schuhe andrehen will, dann kaufen Sie es nicht, sondern verlassen vielleicht sogar den Laden. Menschen, die erst seit Kurzem eine Behinderung haben, wissen aber noch gar nicht, wie sich ein Rollstuhl passgenau unter dem Hintern anfühlt. Sie denken
erst einmal, das müsse so sein, weil der Experte es ja sagt. Und wenn schließlich die Krankenkassen den Handel aktivieren, weil sie den Kaufpreis von 3000 Euro für einen Rollstuhl drücken wollen – wer macht es mir billiger? –, dann beginnt der Reha-Fachhandel zu tanzen und zu argumentieren. Am Schluss kann es sein, dass der Rollstuhl 50 Euro günstiger ist, aber eben nicht passend. Und dann hat man den Salat.
Ich verstehe, dass auch Krankenkassen sparen müssen. In vielen Fällen passiert dies meiner Meinung nach aber leider an der falschen Stelle. Die fachliche Beratung im Vorfeld ist das Salz in der Suppe.
Ähnlich verhält sich die berufliche Rehabilitation. Hier muss sich ebenfalls noch einiges tun. Als ich mich 1996 im Alter von 20 Jahren wieder auf den Markt bewegte, da wurde ich ein zweites Mal behindert.
Mit 15 und mit Beinen wollte ich Schreiner werden, mit 16 ohne Beine war das vorbei. Was aber wird man ohne Beine? Irgendwas im Büro? Eine Schlüsselszene für mich war damals ein Besuch beim Arbeitsamt. Ich sollte dort einen Eignungstest machen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass ich, wenn schon nicht Schreiner, Bauzeichner werden wollte. Mit diesem Plan kam ich zuversichtlich zu meinem Termin und machte den Test, um meine Entscheidung zu untermauern.
Das Resultat erzeugte in mir eine Mischung aus Ratlosigkeit und Verblüffung, denn es kam etwas völlig anderes heraus als das, was ich erwartet hatte. Mit einem Bürojob, der offenbar allen Rollstuhlfahrern angeboten wird, lag ich zwar schon mal richtig, aber: »Bloß nix mit Zeichnen!«, erklärte mir mein Berater, da mein räumliches Denken dafür zu gering ausgebildet sei. Na, herzlichen Glückwunsch – wir haben einen Gewinner im Vorurteilskontest!
In § 33 SGB IX werden die Leistungen der beruflichen Rehabilitation,
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