Bluescreen
Trivialität. Sie hätten ja auch sagen können: »Sexualität ist eine biologische Funktion – und daher kein Anlass, irgendjemanden zu verfolgen. So etwas wie die Wahrheit der Sexualitätgibt es gar nicht , man darf wegen einer so grundsätzlichen, biologischen und privaten Angelegenheit auf niemanden irgendeine Form des Zwangs ausüben und niemanden aufgrund solcher Nebensächlichkeiten verfolgen. Wir müssen die Menschen in Ruhe lassen und dürfen sie weder dazu zwingen, ihre Sexualität zu verleugnen noch sie in aller Öffentlichkeit auszuleben.«
Diese unglückliche, den Kern der sexuellen Befreiung betreffende Formulierung konnte allerdings nur deshalb so viel Schaden anrichten, weil sich herausstellte, dass eine andere mächtige Institution die Vorstellung, Sex sei die wertvollste aller Erfahrungen, nur allzu gut gebrauchen konnte: der Markt. Zunächst war es gar nicht so einfach, das Feld der »Sexualität« von einer ganzen Reihe rivalisierender Normen zu befreien, die es seit Jahrhunderten strukturiert hatten: vom Vorrang der Familie, von religiösen Verboten und biologischen Einschränkungen. Als die Befreiung dann jedoch so weit fortgeschritten war, dass sie als respektabler Erfolg gelten konnte, war es geradezu unverschämt einfach, sie gleich noch weiter zu »befreien«. Die Industrie hatte nämlich herausgefunden, dass sich ihr nun ganz neue Wege boten, das Privatleben zu kolonisieren, und warf daher ihr ganzes Gewicht in die Waagschale der neuen Werte. Was folgte, war eine Liberalisierung mithilfe der Kräfte kommerzieller Transaktionen, die jetzt die Bühne betraten, um diesen Markt auszudehnen und zu regulieren. Es war ein harter Kampf, linke Ideen durchzusetzen wie freie Liebe, die Vorstellung, dass das Körperliche nicht sündhaft sei, oder die Anerkenntnis, dass Frauen genauso intelligent und begabt sind wie Männer und denselben Anspruch auf Würde haben – und tatsächlich sind sie nach wie vor umstritten bzw. stehensie im Begriff, ausgehöhlt zu werden. Im Gegensatz dazu war es ein Klacks, überall sexuelle Stimuli und erotische Darstellungen zu platzieren, Sünde neu zu definieren als die Vernachlässigung des untrainierten, nicht erregten Körpers, und all jenen Menschen ein Gefühl der Scham einzuflößen, die so etwas wie Nichtsexualität an den Tag legen oder – die schlimmste Verfehlung überhaupt – bewusst auf Sex verzichten.
Widerstand gegen all dies wird nicht nur für altmodisch gehalten, sondern für ebenso freudlos wie puritanisch – mit einem Wort: für hässlich. Sextalk ist heute ein so wichtiger Teil des alltäglichen Glamours und derart unerlässlich, um zu demonstrieren, dass man ein moderner, fortschrittlicher Mensch ist, dass niemand darauf verzichten will. Man muss sich allerdings klarmachen, dass kommerzieller Sextalk reaktionär ist und die eigentlich progressive Haltung darin besteht, dagegen zu kämpfen. Im Zuge der Liberalisierung ist es jedoch so weit gekommen, dass heute jeder Diskussion über Befreiung der Makel des Unästhetischen, ja des Hässlichen anhaftet – mit Ausnahme jener oberflächlichen Verherrlichung der »Woodstock-Generation«, die man gelegentlich im Fernsehen zu sehen bekommt. Für den ästhetischen Symbolismus der Liberalisierung sind die ursprünglichen Befreier Ungeheuer: Sie rasieren sich nicht einmal die Beine! Es ist ihnen egal, dass sie fett sind! Sie haben keinen Spaß! Wer darauf hinweist, dass wir alle körperliche Regungen verspüren und dass man diese nicht weiter vermehren oder steigern kann, indem man sie reglementiert, indem man irgendwelche Spezialkenntnisse erwirbt oder mehr davon kauft, gilt automatisch als schmutzig und ekelhaft. In der Marktwirtschaft wird man damit zu unproduktivem Müll,also zu etwas, was sich nicht gegen Geld an den Mann oder die Frau bringen lässt. Es ist (und darauf machte schon Foucault mit Nachdruck aufmerksam) nicht die Unterdrückung der Sexualität, die der Befreiung im Weg steht, sondern die uns nur allzu vertraute Tatsache, dass man die Sexualität permanent »befeuert«. Und wodurch auch immer die Sexualität heute in Gang gesetzt wird, sie wird dadurch zugleich in die Öffentlichkeit gezerrt, so dass die bislang als legitim geltende Balance zwischen dem Privaten (dem Ort der körperlichen Sicherheit) und dem Öffentlichen (der Sphäre der Gleichheit) massiv durcheinander gerät.
Bleibt die Frage, warum die Liberalisierung kehrtgemacht hat, um nun die Jugend zu
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