Bluescreen
mehr Mobiltelefone und andere Gimmicks? Die immer allumfassendere ästhetische Umwelt der Unterhaltungsindustrie? Noch mehr Computer, mit deren Hilfe sich die Konsumenten noch besser überwachen lassen? Zunehmende Kapitalkonzentration? Ein noch raffinierteres Abschöpfen von »Ineffizienzen« im Handel mit Wertpapieren? Den finalen Todeskampf der Rohstoffförderung und Benzinverschwendung? Ach, zur Hölle damit! Ich würde lieber ein wenig langsamer in einer gerechteren Welt leben.
ROUTE 3
Als es mir selbst einmal ziemlich schlechtging, wurde ich Zeuge, wie jemand aus einem Auto geschleudert wurde, und das sah dann gleich noch sehr viel übler aus. Die Unbeholfenheit und die schlechten Spezialeffekte, mit denen ein Körper in hohem Bogen auf den Asphalt knallt, kann man gar nicht überschätzen.
Schwere nächtliche Wolken hatten die Stadt eng umarmt, darunter traf das Licht der Straßenlaternen auf die körnig-feuchte Luft und den schimmernden Dunst auf der Oberfläche der etwas erhöhten Überführung, so dass sich Tausende kleiner Blitzlichter oder Prismen bildeten.
Der Wagen hatte ohne erkennbaren Grund urplötzlich gebremst. Das Heck schnellte leicht nach oben, wie ein Läufer, der auf seinen Zehen stoppt und nach vorne zu kippen droht. Ein menschlicher Körper schoss durch die Windschutzscheibe und flog kopfüber über die Motorhaube. Die Arme eng am Körper, wie eine Taube, die ihre Flügel angelegt hat. Warum hat die Frontscheibe den Flug nicht abgebremst? Spricht man deshalb davon, ein Passagier sei »ausgeworfen« worden wie eine Kassette aus einem Videorekorder?
Es bereitet geradezu seelische Schmerzen, einen Körper mit dem Gesicht aufschlagen zu sehen. Wenn die Arme ausgestreckt sind, um den Aufprall abzufangen, merkt man wenigstens, dass eine Person in dem Körper steckt.
Ich betrachtete meine Hände auf dem Lenkrad, parkte auf dem Seitenstreifen und rief dann 911. Man wusste bereits Bescheid. Im Rückspiegel sah ich, wie Leute aus ihren Autos stiegen, losrannten und dann mit einigem Abstand zu der verletzten Person anhielten. Würde man an ihrem Verhalten erkennen, ob er tot war oder noch lebte? Ich besann mich auf meinen eigenen invaliden Zustand, und schickte mich als nicht länger einsatzfähig nach Hause. In den folgenden Tagen verfolgte ich die Fernsehnachrichten sehr genau und durchsuchte die Zeitungen nach Meldungen über einen schweren Unfall auf dieser Brücke.
Ich habe nie wieder davon gehört. Deshalb habe ich auch nie erfahren, was genau ich da eigentlich gesehen hatte. Abbie Hoffman berichtet, dass die Menschen während der Detroiter Aufstände im Jahr 1968 bei den Sendern anriefen, um herauszufinden, ob es auch in ihrer Gegend Ausschreitungen gab. Sie waren einfach nicht in der Lage, mal eben aufzustehen, zum Fenster zu gehen und nachzukucken. Ich bin fähig, in die Welt hinauszublicken, sehe aber nicht die Szenerie vor meinem Fenster. Der Bildschirm hat längst ein ganz anderes Bild gemalt. Es ist die Nordsee.
Anästhetische Ideologien
Vor einem Jahr schrieb ich einen Essay über eine moderne Krise der Erfahrung. 1 Erfahrung definierte ich damals als die Angewohnheit, aus einem permanenten Strom von Rohereignissen einige herauszugreifen, um sie zu sichern und anderen Menschen davon berichten zu können. Wir jagen einem falschverstandenen Glück hinterher und neigen dazu, dieses Glück durch eine Liste bestimmter Erfahrungen zu ersetzen; wir arbeiten diese Liste ab, sammeln die Erfahrungen ein und verwahren sie im Lagerraum des Gedächtnisses: Sex, Besäufnisse, Reisen, Abenteuer. Diese Erfahrungen gibt es nur in äußerst begrenzter Zahl, wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie eintreten, und sie machen süchtig. In letzter Konsequenz können sie zu einem Leben in permanenter Unzufriedenheit und zu zwanghaftem, geradezu manischem Aktivismus führen.
Seit der ursprüngliche Aufsatz erschien, hatte ich das Gefühl, dem entgegengesetzten Phänomen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben: dem verzweifelten Wunsch danach, jegliche Erfahrung zu vermeiden, nach Anti-Erfahrung sozusagen. Das Streben nach Erfahrung und der Wunsch nach Anti-Erfahrung stehen nicht in einem chronologischen Verhältnis. Es ist nicht so, dass man eines Morgens nach einer finalen Erfahrungsorgie aufwachen und beschließen würde, dass es nun endgültigreicht, dass man keine weiteren Erfahrungen erträgt. Der Wunsch nach Anti-Erfahrung scheint sich eher zufällig einzustellen, er ähnelt einem
Weitere Kostenlose Bücher