Bluescreen
Anfall, folgt keinem festen Muster. Man kommt im Leben einfach in Situationen, in denen man nicht länger so leben möchte wie die anderen, allerdings ohne deshalb gleich sterben zu wollen. Die Erfahrungen stechen und kratzen, sie werden allzu aufdringlich. Die aufregenden Erlebnisse sind dann nicht mehr scheinbar unerreichbar wie ein fernes Pochen in der Dunkelheit. Wir hören auf, Erfahrung für den Hauptgewinn im Leben zu halten, selbst wenn alle anderen weiterhin danach streben. Sie wird vielmehr zu einer Geißel. Und in diesen Momenten wünscht man sich nichts sehnlicher, als dass dieses Gefühl endlich nachlassen möge.
Je länger ich darüber nachdenke, desto eindeutiger scheint mir, dass diese anästhetische Reaktion etwas mit den Reizen zu tun hat, die von einer anderen Neuerung der Moderne ausgehen: der totalen Ästhetisierung unserer Lebenswelt. Wenn Menschen plötzlich das Bedürfnis verspüren, die Häufigkeit oder Intensität der Erfahrung zu reduzieren, dann hängt dieses Unbehagen offenkundig eng mit der ästhetischen Überreizung durch fiktionale und reale politische Dramen zusammen, die uns permanent präsentiert werden – im Fernsehen, in Nachrichtensendungen, in Zeitungen, in Form von Schlagzeilen auf unseren Computermonitoren oder auf irgendwelchen anderen Oberflächen, ob sie nun aus Pixeln bestehen oder aus Papier. »Ich musste den Fernseher einfach ausschalten, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe.« Für solche Klagen haben wir – mehr oder weniger – Verständnis, und wir antworten der seltsamen Miene des Leidenden mit einem ebenso befremdeten Gesichtsausdruck. Wir akzeptieren diese Erklärung allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, weil wir ja selbst Teil der Malaise sind, immerhin haben auch wir – die »normalen« oder gesunden Anderen – uns angewöhnt, unser alltägliches Leben auf eine geradezu widerwertige Weise als Abfolge singulärer Abenteuer zu erzählen. Die Erfahrungsverweigerer werden zunächst den Fernseher ausschalten – und im nächsten Schritt uns. Irgendwann, wenn das Leben sich in einen Albtraum aus ästhetisierten, dramatisierten Ereignissen verwandelt hat, werden sie so weit sein, dass sie alle Bilder und Geräusche des Lebens selbst ausschalten wollen.
Den Beginn einer Phase der Anti-Erfahrung erkennt man daran, dass die Schwelle niedriger wird, ab der man Reize als Ereignisse wahrnimmt. Man erlebt dann alle Dramen, die sich irgendwo in der Welt abspielen, als eigene Erfahrungen, als Erlebnisse, denen man nicht standhalten könnte, würden sie einem unmittelbar selbst widerfahren. Man fühlt sich dann verwundbar und absolut ungeschützt, es ist, als hätte man uns aller Barrieren beraubt oder sie wie eine äußere Haut einfach abgezogen. Mir fällt kein Begriff ein, mit dem man diese drei Ebenen der unvermeidbaren, allzu starken Erfahrungen (die medial vermittelten, jene, von welchen man uns erzählt, und jene, die wir persönlich unmittelbar erleben) besser zusammenfassen könnte als mit jenem der Allgegenwart des Dramatischen.
Ich habe keine Erklärung dafür, warum dieser Albtraum einige Menschen befällt und andere nicht, warum wir in bestimmten Zeiten darunter leiden, während wir in anderen davon verschont bleiben. Recht betrachtet, ist es eigentlich sonderbar, dass solche Zusammenbrüche, solche schmerzhaften Schübe der Erfahrungsüberforderungnicht viel häufiger auftreten. Warum passiert das nur zwei oder vielleicht zehn Prozent aller erfahrungshungrigen Bewohner unserer vollständig ästhetisierten Welt? Vielleicht hat diese Welt ja selbst gewisse anästhetische Eigenschaften, welche den Erfahrungshaushalt der Mehrheit der Menschen in einer Weise regulieren, die verhindert, dass auch sie zusammenbrechen?
Nehmen wir einmal an, man ist an diesem Punkt angelangt und hat nicht länger das Gefühl, zu denen zu gehören, die William James als die »geistig Gesunden« bezeichnet hat. Das verlässlichste Symptom für diesen Zustand ist ein plötzliches Befremden, das einen befällt, wenn die Gesunden schallend über einen brutalen Film lachen oder am Abendbrottisch seelenruhig von den Sexskandalen, Flugzeugabstürzen oder einem durch einen Querschläger getöteten Menschen berichten, von denen sie in den Nachrichten gehört haben. Die »geistig Gesunden« erzählen von den Schlachten, die sie heute geschlagen haben, und den Erfahrungen, die sie dabei errungen haben. Man ertappt sie dabei, wie sie den Objekten ihrer Begierde nachjagen und
Weitere Kostenlose Bücher