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Bluescreen

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Titel: Bluescreen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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darüber in einem Ton des natürlichen Enthusiasmus sprechen, der sich von Hoffnungen und Aggressionen nährt wie Säuglinge von der Muttermilch. Wir haben es hier mit Wesen der Natur zu tun, freilich im Stadium der voll entfalteten Moderne.
    Die traurige Wahrheit ist, dass man trotz alledem auch weiterhin in ihrer Welt leben will. Es hat jedoch den Anschein, als habe diese Welt sich in einer Weise verändert, die einen selbst zu einem Exilanten macht.
    Wie können wir die unendliche Sehnsucht nach immerweiteren Erfahrungen stillen? Diese Frage stand im Mittelpunkt meines ersten Essays, und ich habe zwei Lösungen vorgeschlagen, die darauf zielen, die Erfahrung auszudehnen und so zu intensivieren: Ästhetizismus und Perfektionismus. 2 Welche Lösungen stehen uns nun angesichts dieser zweiten Krise, dem Wunsch nach der Vermeidung von Erfahrungen, zur Verfügung? Wir finden sie sowohl in der Antike als auch in der Gegenwart, und ich möchte sie als anästhetische Ideologien bezeichnen. Bei ihnen geht es darum, die Reichweite der Erfahrungen zu reduzieren. Sie retten die Erfahrung, indem sie sie abschwächen oder gar abschaffen. Es handelt sich dabei in gewisser Weise um das genaue Gegenteil von Ästhetizismus und Perfektionismus.
    Anästhetische Ideologien sind Methoden des Philosophierens und der Praxis, die uns anleiten wollen, nicht länger etwas zu empfinden; oder uns dabei helfen, die Intensität der Erfahrungen zu reduzieren, die wir erleben; oder es uns erlauben, auch in Momenten zu überleben, indenen wir nicht länger leben wollen, und zwar indem sie uns lehren, wie man vorübergehend »stirbt«. Ich verwende das Wort »Ideologien«, weil diese Methoden potenziell ambivalent sind – und zugleich weil der Verdacht, solche Bestrebungen seien in gewisser Weise unmenschlich, durchaus gerechtfertigt sein könnte.
     
     
     
    Machen wir einen kleinen Rundgang durch die Ruhmeshalle, in der die marmornen Büsten der großen Denker des Abendlands aufgereiht stehen. Gleich am Anfang stoßen wir auf Platon und Aristoteles. Platon hielt Sokrates ein Megafon vor den Mund, und wir erfuhren von den Ideen, davon, dass die Gerechtigkeit ewig und das Gute objektiv ist. Aristoteles wiederum näherte sich der Natur mit dem Sezierbesteck, dem Menschen mit dem Zollstock und systematisierte alle Formen der Materie und des Lebens. Wir lernten, dass der Mensch ein politisches Wesen ist und dass das Gute für ihn darin liegt, sein eigenes Potenzial zu entfalten. In gewisser Weise führte der Weg von Platon notwendig zu seinem Nachfolger und großen Gegenspieler Aristoteles. Gemeinsam vermachten sie uns die abendländische Philosophie als Tradition des Handelns und der Verwirklichung von Potenzialen.
    In der Antike gab es allerdings noch andere Philosophenschulen, die mit denen Platons und Aristoteles’ um die Vorherrschaft rangen. Von diesen Schulen führt kein direkter Weg in unsere Moderne, die vom Streben nach Erfahrung gekennzeichnet ist. Sie begründeten eine Tradition, in der es umgekehrt gerade darum ging, sich der Stimulation, den Reizen, dem Werden und dem Ehrgeiz zu verweigern. Auch Gefühle und Empfindungen galtes zu vermeiden, man strebte danach, nichts zu fühlen – Anästhesie . Ganz am Anfang der abendländischen Philosophie dachte man also bereits über Wege nach, die Erfahrung einzuschränken, und diese Schulen waren einst ebenso wichtig für das westliche Denken wie jene Traditionen, die in unserer Gegenwart die Oberhand gewonnen haben und die wir heute als gesunden Menschenverstand und als Normalität betrachten. Wenn wir heute nach Wegen suchen, der beschriebenen Krise der Erfahrung zu entrinnen, so können diese vergessenen antiken Lehren dabei mindestens genauso hilfreich sein wie jene »östlichen Philosophien«, die für viele Menschen heute den einzigen, allerdings schmalen Weg darstellen, um etwas Abstand zum doch sehr einseitigen westlichen Streben zu gewinnen.
    Nicht alle Studenten, die dem Beispiel Sokrates’ folgen wollten, traten in Platons Akademie ein. (Meine Darstellung der Zeit nach Sokrates orientiert sich an dieser Stelle an Anthony Arthur Long, dem Doyen der hellenistischen Philosophie.) Einer der frühesten, Diogenes von Sinope, genannt Diogenes der Zyniker, führte das Leben eines Bettlers, hielt das sokratische Beispiel der beleidigenden Rede hoch und lehrte, man müsse sich von Eigentum, Äußerlichkeiten und sozialem Status freimachen und – dies freilich im Gegensatz zu Sokrates –

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