Bluescreen
wird mir klar, dass die heutige Generation auf eine Art sehr viel realistischer ist, was das Internet angeht. Die anderen stimmten nämlich zu, auch sie waren der Ansicht, es wäre gut, wenn das Internet ab und an vorübergehend ausfallen würde. Nicht für immer, sondern zunächst nur für eine Woche oder so. Doch wenn sich das als Erfolg erwiese, könnte es regelmäßig zusammenbrechen. Man hätte dann endlich wieder Zeit zum Atmen.
Als Angehöriger einer der letzten Generationen, die noch wissen, wie das Leben ohne Internet war, kann ich mit voller Gewissheit sagen: Das Leben ist sehr viel angenehmer gewesen. Die gegenständliche Welt besaß eine größere Dichte. Ich fürchte, dass solches Wissen verloren gehen wird, wenn die Leute es nicht länger beiläufig festhalten – nicht in epischen Klageliedern, sondern als flüchtige Notizen in ihren Tagebüchern. – Und zwar obwohl wir uns heute vor den modernen Technologien verbeugen und Kratzfüße machen wegen all der neuen Gefühle und Annehmlichkeiten, die damit zusammenhängen.
Ich gehöre zu einer jener seltenen, mutierten Generationen von Schmetterlingen, die sagen können, dass sie eine technologische Revolution erlebt haben und wissen, wie es sich anfühlt, aus dem Kokon zu schlüpfen. Ich erstatte hiermit Bericht. Das Leben geht weiter, allerdings haben wir nun die Last dieser neuen Flügel zu tragen, mit denen wir nicht wirklich fliegen können. Im Gegenteil: Sie behindern uns. Mit jedem einzelnen Schlag werden sie zu einer größeren Last.
WeTube
»Liebling, was kommt heute Abend Schönes auf YouTube?« Leute, die tanzen. So viel ist sicher. Ich habe bootie dancing gesehen (es gibt auch die Schreibweise booty dancing für diese Form des Bauchtanzes mit einem tiefer gelegenen Körperteil). Ich habe breakdancing gesehen. Ich habe sogar tanzende Vögel gesehen (der bekannteste von allen ist ein Gelbhaubenkakadu, der zu den Backstreet Boys eine Art Cancan aufführt). Ich bin wirklich kein sonderlicher Tanz-Afficionado, aber irgendwie lande ich auf YouTube immer bei tanzenden Menschen oder Tieren. Man geht auf die beliebteste nicht pornografische Video-Upload-Website der Welt und klickt sich durch all die labyrinthischen Unterportale, die einem den Weg weisen sollen. »Videos, die andere Nutzer gerade ansehen«, »Beliebteste Videos«, »Gesponserte Videos«. Damit beginnen zwangsläufig Stunden eines Zustands, den ein Freund von mir »Klick-Trance« nennt. Und was bekomme ich dort in Endlosschleife zu sehen? Musik und tanzende Leute. Sechsjährige, die zu Hardstep tanzen. Kinder im Grundschulalter, die in ihren Wohnzimmern unfassbare Schrittfolgen bei »Dance Dance Revolution« hinlegen. Und immer wieder Erwachsene: Leute, die auf Pool-Partys tanzen, auf Partys mit improvisierten Gartenrutschbahnen, auf Sylvester-Partys. Natürlich habe ich auch den beliebtesten YouTube-Clip überhaupt gesehen, »Evolution of Dance«. Während ich diese Zeilen schreibe (also irgendwann im Jahr 2008), ist dieser langjährige Inhaber des Titels des am häufigsten gesehenen YouTube-Clips aller Zeiten bereits 72 Millionen Mal über den Bildschirm gelaufen. 1 Ich bin mir sicher, dass ich nur für zehn Aufrufe verantwortlich bin. Und dennoch finde ich meinen Weg immer wieder zu »The Evolution of Dance« zurück.
Ich nehme an, dass der absolut amateurhaft anmutende Clip »Evolution of Dance« so erfolgreich werden konnte, weil er so etwas wie die Essenz aller von Amateuren produzierten YouTube-Inhalte auf den Punkt bringt. Das Video verkörpert den tieferen Charakter dessen, was die Nutzer und insbesondere jene Menschen, die Videos hochladen, meiner Meinung nach auf YouTube – bislang jedenfalls – suchen. Sie kennen den Clip sicher schon, lassen Sie mich »The Evolution of Dance« zur Erbauung zukünftiger Generationen trotzdem noch einmal beschreiben. Der Amateur auf der Bühne ist ein Mann namens Judson Laipply, den ein eingeblendeter Text als »inspirational comedian« ausweist. Er steht vor einer Kulisse, die man als »Talentshow-Minimalismus« beschreiben kann, auf einer Bühne mit schwarzem Hintergrund, sieht ziemlich abgerissen aus und wird aus größerer Entfernung gefilmt, vermutlich von einem Sitz im Zuschauerraum aus. Hier wird keine miese Talentshow simuliert: Der beliebteste YouTube-Clip aller Zeiten ist tatsächlich ein mies gemachtes Talentvideo. Wie bei Comedians üblich hat Laipply auf der einen Seite einen Barhocker, auf der anderen ein Mikrofon. Während
Weitere Kostenlose Bücher