Bluescreen
er sein Programm darbietet, hört man das Gelächter und den Jubel der Menge sowie den blechernen Klang seiner Musikbegleitung, der von einer Anlage stammt, die irgendwo im Raum zu stehen scheint. Judson Laipply, ein Weißer mit Geheimratsecken, trägt ein orangenes T-Shirt und eine Jeans und wirkt auf den ersten Blick wie ein ganz normaler Typ, doch das wird sich ändern. Er steht bereits in jenem Scheinwerferlicht, das ihm folgen wird, wenn er nach links tanzt. Er steht dort, weil er gleich anfangen wird zu tanzen, weil er die »Evolution of Dance« aufführen wird. Als ich den Titel zum ersten Mal las, habe ich so etwas erwartet wie: von den Höhlenmenschen zu Balanchine. Doch schon nach den ersten Tönen eines Medleys aus Stücken, die in etwa die Zeit von Elvis Presley und Chubby Checker bis zur Gegenwart abdecken, ist klar, dass der »inspirational comedian« Judson Laipply in der Lage ist, wie eine Marionette, die plötzlich zu Leben erwacht, mit außergewöhnlicher Dehnbarkeit, perfekter Synchronizität und sauber choreografierten, nahtlosen Übergängen zwischen den einzelnen Figuren in einen Tanz hineinzuspringen, der einfach sitzt. Das unglaubliche Vergnügen, das man dabei empfindet, hat erstens mit seiner an die Knetfigur Gumby erinnernden Fähigkeit zu tun, so viele unterschiedliche Stile tanzen und sich einfach in alles und jeden verwandeln zu können. Zweitens mit dem Einfallsreichtum und der Athletik, die er auf die Zusammenstellung dieses enorm bewegungsintensiven Tanzmedleys verwandt hat, in dessen Verlauf er sich öffentlich in alle möglichen anderen Personen verwandelt. Drittens , und dieser Punkt schließt direkt daran an, mit der Wiedererkennbarkeit. Wir erkennen jeden einzelnen dieser Songs augenblicklich wieder – und damit auch jeden einzelnen Tanzstil. Das entscheidende Merkmal der ausgewählten Stücke und Choreografien ist nämlich, dass sie lediglich der Phase der »Evolution des Tanzes« seit der Einführung des Fernsehens entnommen sind. Wir bekommen also ausschließlich Tänze dargeboten, die wir auf Bildschirmen kennengelernt haben wie jenem, auf dem wir nun Laipply sehen. Hier geht es nicht um Volkstänze. Wir werden nicht Zeugen, wie sich aus dem Reel die Quadrille und der Walzer entwickeln. Dass wir heute wissen, wie man wie Elvis tanzt, verdanken wir schließlich Ed Sullivan, der Elvis in seiner Show allerdings nur vom Becken aufwärts filmen ließ, und unzähligen Filmen wie Jailhouse Rock und Blue Hawaii ; wie Twist aussieht, wissen wir, weil die entsprechende Mode damals im Bild festgehalten wurde. Und wenn Justin Laipply dann von den Bee Gees zu John Travoltas »Ich habe einen Finger in der Hosentasche, also hole ich ihn mal besser raus, um ihn auszustrecken«-Moves übergeht; wenn er zu » Y.M.C.A. « mit seinem Körper die Buchstaben formt, wie es uns The Village People in TV -Sendungen wie Solid Gold beigebracht haben – dann sehen wir Tanzbewegungen, die auch wir vom Fernsehen für Hochzeiten und Bar-Mizwas übernommen haben. Dasselbe gilt für den Breakdance-»Wurm«, den er tanzt, nachdem er sich auf den Boden hat fallen lassen, für den Roboter, den er zur Musik von Styx nachmacht (»Domo Arigato, Mister Roboto!«), für den »Running Man« und MC Hammers »Hammer Dance«. Als Laipply sich schließlich die letzten zwanzig Jahre vornimmt und im Publikum Lachen und Jubel ausbricht, weil die Wiedererkennungsmomente immer überraschender werden, wird endgültig deutlich, wie viele unserer Tänze wir allein aus dem Fernsehen, aus Musikvideos, Michael Jacksons »Thriller« und von den Schaufensterpuppen-Moves von ’N Sync kennen.
Es gibt viele großartige Videos auf YouTube, aber Judson Laipplys Clip ist insbesondere deshalb der großartigste von allen, weil er die wichtigsten Bezugsgrößen eines typischen YouTube-Filmchens auf perfekte Weise zum Verschmelzen bringt – zumindest jener Clips, die wir heute zu sehen bekommen, in einem Jahr ist vielleicht alles schon wieder ganz anders: die Talentshow (also die Zurschaustellung und Anwendung traditioneller individueller Begabungen), Fernsehausschnitte, die aus ganz anderen Kontexten stammen, und vor allem das Hybrid-Genre Musikvideo, jene dreiminütigen, zu Musik geschnittenen Kurzfilme, die selbst MTV in den späten Neunzigern durch Reality- TV -Formate ersetzt hat.
Das soll nicht heißen, dass es auf YouTube außer Darbietungen von Laien im traditionellen Sinn sowie Musikvideos und aus dem professionellen Fernsehen
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