Bluescreen
zurückholen. »Sex« schien der abstraktere gemeinsame Nenner all dieser Erfahrungen zu sein, man sah sich einfach »Sex« an. Was jedoch den Faktor Amateure anbelangt, müssen wir uns allmählich klarmachen, dass Erotik nicht der wichtigste Reiz ist, der von diesen Filmchen ausgeht (sonst hätten die Profis das Internet komplett an sich gerissen), sondern etwas ganz anderes. Was YouTube uns vom ersten bis zum millionsten Klick immer wieder vor Augen führt, ist, wie gerne wir Amateuren zusehen. Nicht, wenn sie einfach nur so dastehen, natürlich. (Kein Wunder also, dass auch nicht pornografische Rund-um-die-Uhr-Webcam-Seiten wie JennyCam in den letzten Jahren aus der Mode gekommen sind.) Wir sehen ihnen gerne dabei zu, wenn sie etwas aufführen oder darbieten, worum auch immer es sich dabei handeln mag.
Die Amateurpornografie hat das Internet nicht allein deshalb überschwemmt, weil sie das unmittelbar erregendste der leicht verfügbaren Genres darstellt, sondern die Darbietung par excellence, für die man keinerlei Talent braucht . Alles, was man benötigt, ist die Bereitschaft, gesehen oder gezeigt zu werden: Man muss nicht einmal besonders gut rammeln können, obwohl da draußen natürlich Urteile über die Qualität von allem und jedem gefällt werden, sobald es genug Alternativen gibt, die man bewerten kann. (Und die Kommentieren-und-bewerten-Interfaces geben den Nutzern die Gelegenheit, sich zu Richtern über jede einzelne Sendung aufzuschwingen.)
Dass YouTube pornofrei ist, wird noch durch all die Links, Teaser und weitere Kniffe betont, mit denen wir auf andere Seiten jenseits des Portals gelockt werden sollen, dorthin also, wo es echte Pornografie gibt, nur einen Mausklick entfernt. Man stößt auf zahllose Frauen in Unterwäsche, die einen hinter eingeblendeten Adressen mit XXX -Versprechen auf andere Websites lotsen wollen. Doch selbst diese Videos scheinen nur so lange zu existieren, bis YouTubes aufmerksame Kontrolleure sie eingefangen, ruhig gestellt und irgendwo eingesperrt haben wie Tiere, die aus dem Zoo entlaufen sind. Dabei handelt es sich übrigens um Profis, die man mit der Aufgabe des Filterns und Löschens beauftrag hat und die den Hinweisen der angeblich riesigen Bürgerwehr von YouTube-Usern nachgehen, die darüber befinden, was nicht in Ordnung ist (indem sie den »Als unangemessen melden«-Button drücken). Und dennoch gibt es immer noch Leute, die ausgerechnet an dem Ort nach Nacktheit suchen, wo man garantiert keine findet – ich weiß, wovon ich spreche, ich habe es ausprobiert. Auf YouTube zeigt nicht einmal ein Video mit dem Titel »Britney Spears oben ohne« Britney Spears wirklich »oben ohne«, sondern nur einen endlosen Kameraschwenk über ihr Gesicht und ihre nackten Schultern (das Video wurde mittlerweile 36 753 829 Mal abgerufen; Anm. d. Ü.).
Subtrahiert man jedoch den Sex von all diesen Beispielen der Selbstzurschaustellung, drängen altmodische Begabungen in den Vordergrund: nicht nur das Tanzen, sondern auch der Gesang. Wir haben es allerdings mit medial vermittelten Talenten zu tun. Nur sehr wenige Menschen schaffen auf YouTube den Durchbruch mit Songs, die sie selbst geschrieben haben, aber viele ernten haufenweiseKlicks, indem sie berühmte Lieder anderer Leute nachsingen. Mit einem improvisierten Gitarrensolo kommt niemand weit, doch wer ein Break von Jimmy Hendrix oder Jimmy Page nachspielen kann (wobei es ausreicht, wenn im Video nur der Gitarrenhals und die Hände zu sehen sind), der kann auf ein ganzes Spinnennetz aus Wertschätzung rechnen.
Eine Begabung, die auf Videoportalen bislang leider noch nicht zu meiner vollen Zufriedenheit zur Entfaltung kommt, ist das Sprechen. Auf YouTube gibt es jede Menge sogenannter »V-logs« oder »vlogs« (die Abkürzung steht für Video-Blogs), die mit den frühen Text-Blogs in Bezug auf die geistige Haltung der Autoren durchaus verwandt sind. Im Großen und Ganzen sind diese V-logs fürchterlich. Ich glaube, sie sind deshalb so schlecht, weil es sich um Monologe handelt, die sich nicht an ein konkretes Publikum richten, das ein unmittelbares Feedback geben oder Anpassung forcieren könnte. Selbst in den einfachsten Talkshows auf den offenen Fernsehkanälen oder im College-Radio treten Gäste und Gesprächspartner auf, die die Dinge in Bewegung halten, wohingegen das einzige Hilfsmittel, über das die Produzenten der V-logs verfügen, eine Webcam ist, die sie oben an ihrem Bildschirm befestigt haben. Kuckt man sich an,
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