Bluescreen
was es sonst noch gibt in der Welt, so schaffen sie es im besten Fall auf das Niveau von guter Stand-up-Comedy, und in der Regel sollen die V-logs ja auch lustig sein; oder es wird geschimpft, im Stil der Hetzer, die wir aus Talkshows oder aus dem Wortradio kennen. Aber man findet selten gute Schimpftiraden von Leuten, die einfach nur ganz allein irgendwo stehen. Am besten scheint das Sprechen im Internet zu funktionieren, wenn jemand leidenschaftlich mit jemandanderem redet und das Ganze heimlich oder von einem Paparazzo gefilmt wird (eine Masche, die wir von dem Internet-Magazin tmz.com kennen). Wenn man nur in eine Webcam auf dem eigenen Computer spricht, dann kommt nicht jenes genial-produktive Prinzip der Darbietung zum Tragen, das selbst einsames Tanzen, Gitarrespielen oder Strippen kennzeichnet. Ein weiterer Grund für die Überlegenheit der Musik. Es ist wie auf Partys: Solange Musik da ist, muss niemand reden.
Zu Bestform laufen die Sprecher ohnehin dann auf, wenn sie satirische Texte für jene Musikvideo-Parodien schreiben, die inzwischen eines der wichtigsten YouTube-Genres darstellen – neben den Videos der großen Plattenfirmen, die in dem Portal ein neues Medium gefunden haben, wo sie nun ihr zweites Leben fristen. Die Musik existiert bereits, die Clips schreien geradezu danach, parodiert zu werden. Das Dreiminutenformat scheint ungefähr die Länge zu sein, die man gerade so eben noch mit der privaten Video- und Schnittausrüstung bewältigen kann und die zur Aufmerksamkeitsspanne der Zuschauer passt, die sich gezwungen sehen, den Worten zuzuhören. Übrigens eignen sich für Parodien am besten die Songs, in denen überdurchschnittlich viel gesprochen wird, ein Hinweis darauf, dass es doch Wege gibt, Sprechperformances im Internet zu ihrem Recht zu verhelfen.
Der größte Fehler, den man im Zusammenhang mit YouTube machen kann, bestünde darin anzunehmen, hier würden Individuen in die Lage versetzt, Fernsehen zu machen. Das Fernsehen bleibt ein kapital- und arbeitsintensives Medium. Daran hat sich nichts geändert, dieSchwelle ist kein bisschen niedriger als zuvor. Die Videos, die man auf YouTube zu sehen bekommt, haben so gut wie nichts mit Sitcoms oder seriösen Fernsehspielen zu tun, überraschenderweise auch nichts mit experimentellem oder personalem Kino à la Nanni Moretti, Robb Moss oder Caveh Zahedi, eine Form, auf die Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen in der Vergangenheit zurückgegriffen haben. Der einzige Punkt, an dem Fernsehen und YouTube sich berühren, sind die Ausschnitte, die Leute aufgenommen und dann hochgeladen haben. Man kann sich die schönsten Tore der letzten Woche ankucken, Interviews mit lustigen Versprechern, Schnipsel aus dem japanischen, spanischen, libanesischen Fernsehen (einschließlich libanesischem Bauchtanz usw.); genauso leicht findet man Auftritte Adornos im deutschen Fernsehen, ausgewählte französische Intellektuelle, die auf dem Bildschirm diskutieren, und natürlich weitere erlesene Ausschnitte aus Talkrunden, Sportsendungen und Spielshows aus aller Herren Länder.
Tatsächlich deutet all das darauf hin, dass YouTube, zumindest potenziell, eine immens wichtige Funktion einnehmen könnte: Es könnte zum Archiv des Fernsehens und damit jenes Mediums werden, das bislang kein öffentlich zugängliches Archiv hatte. Die Leute posten alte Werbespots sowie die Titelsongs und Szenen aus ihren Lieblingssendungen (ich habe keine Ahnung, wie sie an diese Clips kommen) und, immer wieder, musikalische Darbietungen der Großen und Toten. Und so haben wir endlich wieder Zugang zu all den Dingen, die verloren und (außer in unserer Erinnerung) unsichtbar waren. (Ich habe einen Abend damit verbracht, mir Reklame aus meiner Kindheit anzusehen und mir wieder und wieder dieWerbung für Honeycomb Cereals angeschaut, in der plötzlich André der Riese auftaucht: Erinnerung bestätigt; die Großen und Toten wiederbelebt. Und dieser Musical-Jingle!)
YouTube nimmt also die Aufgabe in Angriff, das Fernsehen zu archivieren. Was mir allerdings Sorgen bereitet, ist, dass YouTube im Begriff steht, den Fehler des Fernsehens, seine Gedächtnislosigkeit, zu wiederholen, da das Portal seine eigenen Inhalte selbst nicht sauber verwaltet. Die Clips kommen und gehen. Obgleich es möglich ist, sich die beliebtesten Filme von heute, von vor einer Woche oder einem Monat oder aller Zeiten anzusehen, so kann man doch nicht zu einem bestimmten Tag oder einer bestimmten
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