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Bluescreen

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Titel: Bluescreen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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Woche zurückgehen, um zu sehen, was damals beliebt war. So wird auch YouTube zu einem jener Medien ohne aufgezeichnete Geschichte – mal ganz abgesehen davon, dass historische Fernsehausschnitte, die lange verschwunden waren, aus Copyright-Gründen erneut verschwinden, sobald die kapitalstarken Medienkonglomerate sie ausfindig gemacht haben, und dass es inzwischen so viele Firmen gibt, die sich darauf spezialisiert haben, solches urheberrechtlich geschützte Material ausfindig zu machen und zu beseitigen. YouTube wird niemals eine wirklich angemessene Repräsentation eines »Wir« sein, solange es uns nicht gestattet, alles urheberrechtlich geschützte Material, das in Hollywood oder New York unter großem Einsatz von Kapital produziert worden ist, in einem chronologischen Archiv auszustellen, in dem zugleich auch all das Gesinge, die Satire, die Unfälle und, ja, das Bootie Dancing gespeichert sind, mit denen Millionen von Menschen in ihren Schlafzimmern auf Hollywood reagiert haben, möglicherweise auch, um es zu ersetzen.
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Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches im September 2011 wurde das Video bereits 180 030 870 Mal aufgerufen (Anm. d. Ü.).

FARBEN
    Als ich in der Pubertät war und fürchterlich unglücklich über die Menschheit und ihre Erzeugnisse, fragte ich mich immer, welche Farben die Männer und Frauen wohl tragen würden, wenn sie frei wählen dürften. All die Braun-, Schokoladen-, Umbra-, Graubraun-, Hellbraun- und Ocker-, Grau- und Schwarz-Töne, in die wir uns kleideten, schienen mir irgendwie aufoktroyiert. Erdfarbene Töne waren die Farben des Zwangs. Immer wenn ich Regenjacken, Kleider, Autos und Gebäude in diesen kaum voneinander zu unterscheidenden Farben der Niedergeschlagenheit und Selbstauslöschung sah, musste ich an Halsbänder denken und an Hundeleinen. Wäre das Menschengeschlecht ganz anders als der Hund, nämlich nicht so unterwürfig, würden wir unsere Erfahrungen dann nicht in sämtliche Farben der Buntstift-Palette kleiden wollen? (So jung, wie ich damals war, verstand ich natürlich nicht, dass ganz bestimmte Lichteinfallwinkel die Nadelstiche früherer Erfahrungen reaktivieren und auf diese Weise die Augen Erwachsener verletzen.)
    Meiner kindlichen Meinung zufolge sollten sich die Menschen in spiegelnde Materialien kleiden, in Aluminiumfolie, Gummispikes, Fischernetze und Frottee-Gewänder. Alle Kleidung sollte violett gefärbt sein, in Neon- und fluoreszierenden Farben, in Mauve- oder Orangetönen. Die finstere Vorstellung, es gebe so etwas wie sich »beißende« Farben, kam mir absurd vor. Warum sollten Flöten und Pauken nicht auch einmal gleichzeitig erklingen?Ich verachtete Menschen, die glaubten, manche Muster seien zu »grell« oder zu »bunt« oder zu »hektisch« oder würden jemandem nicht stehen. Damit einem etwas steht, muss man es eben anziehen. Ein Kronzeuge für meine Meinung schien mir der junge Kierkegaard zu sein, der – vor 1843 – auf einem seiner Spaziergänge einem Bettler begegnet war, der sich in einem blassgrünen Mantel mit gelben Flecken über die Straße schleppte.
    »Ist es nicht traurig? diese Farbenmischungen, an welche ich heute noch mit so großer Freude zurückdenke, nirgends findet man sie mehr. Alle Welt findet sie grell, auffallend, nur noch anwendbar auf Nürnberger Spielwaren. Begegnet man ihnen einmal, alsdann soll jedesmal die Begegnung eine ebenso unerfreuliche sein, wie meine neuliche. Jedesmal soll es ein Irrsinniger, ein Verunglückter, kurz, jemand sein, welcher sich fremd im Leben fühlt, und welchen die Welt nicht für voll gelten läßt. Und nun ich, der ich meine Helden immer mit jenem ewig unvergeßlichen hellgrünen Anstriche ihrer Kleidung gemalt habe!« 1
    Doch genau wie die Menschen nicht einfach mal eben Privatsprachen erfanden und verwendeten, nur weil ich mir das so gewünscht hätte; genau wie die Menschen ihre Leben nicht einfach umstülpten, ihre Träume als eigentliche Realität begriffen und den Wachzustand als ungebetenen Gast an ihrem Bett, weil ich mir das eben einbildete – genauso wenig hat sich die empirische Realität bislang meinen Vorstellungen über Kleiderfarben gebeugt. Es hatte niemals den Eindruck, als würden die freiesten Menschen die grellsten oder knalligsten Farben tragen.
    Im Gegenteil, helle und außergewöhnliche Farben schienen die Farben der Narzissten oder der Reichen zu sein, wobei auch sie entsprechende Kleidung selten und nur mit besonders elegant gewobenen Mustern

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