BLUFF!
lassen wollen, dann geriete man schnell in den Ruf, ein wirklichkeitsfremder Träumer zu sein, der sich der Härte der wirklichen, der realen Welt durch Flucht entzieht.
Dabei ist im Grunde das Gegenteil der Fall. Nichts gegen einen vernünftigen Umgang mit Geld, doch mit der existenziellen Welt, der wirklich wichtigen Welt, in der wir alle von unserer Geburt bis zu unserem Tod ganz real leben, hat all das letztlich nichts zu tun. Die Frage, ob unser Leben Sinn hat, ob wir einen Menschen wirklich lieben, ob wir gut oder böse handeln, ist mit Geld nicht wirklich zu lösen. Geld mag helfen, Gutes zu tun, aber ein mittelloser Mensch, der einem einsamen Mitmenschen Zeit schenkt, ist gewiss ein besserer Mensch als ein eitler Prahler, der wohltätig ist, um sich überall preisen zu lassen. Und so wie wirkliche Liebe für Geld nicht zu haben ist, so ist auch der Sinn des Lebens nicht käuflich.
Am Tage unseres Todes ist der Stand des Dax völlig uninteressant, egal wie viele Aktien wir besitzen. »Das letzte Hemd hat keine Taschen« – dieser weise Spruch früherer Zeiten gilt unverändert. Die Welt des Geldes tut so, als sei sie mit all ihren gigantischen lärmenden Crashs die eigentliche Welt, gegenüber der das einmalige Leben und der einmalige Tod eines einmaligen Menschen keinen Wert haben. Doch in Wahrheit ist es genau umgekehrt. Wer einen einzigen Menschen rettet, rettet die Welt, sagt ein jüdischer Spruch. Demgegenüber hat die Welt des Geldes keine existenzielle Substanz. Zwar funktioniert sie in der Realität, wie andere Fälschungen auch, sie kann Menschen ruinieren und sanieren, und sie wirkt sich auf diese Weise zweifellos auf das existenzielle Leben einzelner Menschen aus, wie Wunschträume und Alpträume das tun. Doch das ändert nichts daran, dass sie in Wahrheit ein künstliches Konstrukt ist, eine verwirrende Bühne für spektakuläre Tragödien und Komödien und da, wo gierige Finanzjongleure ihre Finger im Spiel haben, sogar tatsächlich eine mit böser Absicht gefälschte Welt.
Manchmal äfft die Welt des Geldes die existenzielle Welt sogar nach. Doch sie kennt bloß Schulden, aber keine wirkliche Schuld, sie kennt bloß Kredit, aber kein wirkliches Vertrauen, sie kennt Konjunktur, aber keine wirkliche Liebe.
Dennoch drängt sich die Finanzwelt in unser aller Leben machtvoll vor. Sie behauptet, von ihr, von ihr allein, hänge Wohl und Wehe der Menschheit ab, und mittlerweile dominiert sie die Nachrichten, bringt die Politik auf Trab und verschafft sich über ihre Katastrophen höchste öffentliche Aufmerksamkeit. Selbst in Krimis gilt ein finanzielles Mordmotiv als sozusagen vernünftig, während Mord aus irgendwelchen Leidenschaften heraus verrückt wirkt. Auf diese Weise erscheint die Finanzwelt durch und durch als eine höchst wirkliche Welt, der sich niemand von uns völlig entziehen kann, und auch sie vermittelt den Eindruck, dass sie die eigentliche Welt ist und dass Liebe, Gut und Böse, Sinn des Lebens oder gar so etwas wie Gott Illusionen sind, die vom eigentlichen Leben ablenken, einem Leben, das man auf Heller und Pfennig berechnen kann. Oder etwa nicht?
Manchmal bricht aber dann doch die existenzielle Welt in die Finanzwelt ein. Da begeht ein Betrüger wie Bernhard Madoff mit den Mitteln der Finanzwelt seine Verbrechen, jongliert mit vorgetäuschten Milliarden, treibt Menschen in den existenziellen Ruin, wird verurteilt, verliert seinen Sohn durch Selbstmord und versteht im Gefängnis die Welt nicht mehr. Da verzichtet ein Unternehmersohn auf sein Erbe und sucht den Sinn seines Lebens woanders. Da verliebt sich ein alter Milliardär in eine junge Frau und wird unkalkulierbar. Es sind Irritationen, die in den Boulevardblättern Aufsehen erregen. Dann gibt es mal kurz Diskussionen über Markt und Moral, über Einsteiger und Aussteiger, über Liebe und Geld. Doch die ehernen Abläufe der Finanzwelt selbst werden davon nicht berührt. Letztlich sind das alles die bekannten »peanuts«, die Ausnahmen von der Regel, und die Regel, das ist eine gigantische künstliche Geld-Welt, geschaffen zwar von Menschen, doch längst ein eigensinniges unbezähmbares Monster, wie der Minotaurus einst, jene menschenfressende Höllengeburt, die inmitten eines Wirrnis stiftenden Labyrinths auf der Lauer lag und gierig Existenzen vernichtete.
Um nicht missverstanden zu werden: Es wäre ganz unfair, hier pauschal Leute zu beschimpfen, die in der Finanzwelt oder in der sogenannten Realwirtschaft tätig
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