BLUFF!
verstand zwar kaum jemand, worum es eigentlich ging, aber gerade deswegen wurde man ja von kompetenten Fachleuten beraten, und da musste das schon seine Richtigkeit haben.
Nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus schienen die Paradiese des Kapitalismus jedem offenzustehen. Man musste nur ein bisschen Risikofreude zeigen, Spaß am Leben und nicht allzu spießiges Sicherheitsdenken, und schon konnte man leben wie Gott in Frankreich: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und die Gewinne waren beträchtlich. Ganz ohne Arbeit konnte man Geld verdienen, und sogar viel Geld. Wer sein Geld bloß aufs Sparbuch tat, galt als hoffnungslos antiquiert, als tölpelhaft oder als geradezu krankhaft ängstlich.
Doch dann der Katzenjammer! Die Telekom-Aktie brach ein. Man hatte sich da mit den Immobilien ein bisschen verrechnet. Die Aktie stürzte steil ab von neunzig Euro auf am Ende zehn Euro. Überhaupt platzte die erste IT -Blase an der Börse. Die erfolgversprechenden neuen Technologien hielten ihr Erfolgversprechen nicht, sondern schrumpften plötzlich unfassbar schnell in sich zusammen. Die Aktienindizes waren im freien Fall.
Schlaglichtartig wurde klar, dass die Finanzwelt, die man bisher so genau zu kennen meinte, eine Fälschung war, dass sie zum Teil aus Potemkinschen Kulissen bestand, die mit böser Absicht oder in naiver Gutgläubigkeit in den Raum gestellt worden waren, und dass hinter ihnen keinerlei wirkliche Substanz stand. Alles, was da bisher so sicher schien, erwies sich mit einem Mal als höchst fragil. Der erste Schwung Investmentbanker landete umstandslos auf der Straße und musste sich einen anderen Job suchen. Einige Kunden empörten sich, da sei ihnen doch etwas ganz anderes versprochen worden, und bekamen zu hören, es sei ja immer gesagt worden, dass man mit risikoreichen Anlagen zwar viel Geld verdienen, aber auch viel Geld verlieren könne. So sei das Leben. Es schmerzte viele Börsenanfänger vor allem, dass ihr mit ihrer eigenen Hände Arbeit sauer verdientes Geld auf diese Weise in irgendwelchen obskuren schwarzen Löchern auf Nimmerwiedersehen verschwand, während sich herausstellte, dass manche cleveren Jongleure ihr Schäfchen noch rechtzeitig ins Trockene gebracht hatten. Die Wut war groß, aber aussichtslos.
Für viele hatte diese Krise wertvolle Erkenntnisse gebracht. So wurde klar, dass die scheinbar so kompetenten Finanzberater außer einigen Allerweltsratschlägen in Wahrheit nur wenig zu bieten hatten. Jedenfalls wäre ein Finanzberater, der wirklich den ultimativen Ratschlag hätte, wie man schnell richtig gutes Geld macht – natürlich sofort kein Finanzberater mehr, sondern er würde mit diesem Wissen für sich persönlich sorgen und sofort selber Multimillionär oder gar Multimilliardär, wie ein Warren Buffett.
Allein eine solche Einsicht wirkt ernüchternd. Damit aber wurde deutlich, dass schon das ganze Finanzberatungsgeschäft weniger mit Ökonomie als vielmehr mit Psychologie zu tun hat und dass hier in den verschwiegenen Beratungszimmern von Banken und Sparkassen skurrile Theateraufführungen von zwei Menschen ohne Publikum stattfinden, an deren Ende mitunter ein Vertrag steht, den beide Seiten im Kern nicht wirklich begreifen. Das Problem also ist, nicht zu wissen, was man da wirklich tut. Denn man agiert in einer bloß virtuellen Finanzwelt. Andererseits setzt man mit den in dieser irrealen Welt getroffenen Entscheidungen aber unter Umständen die eigene reale Existenz aufs Spiel.
Wer einmal mit dieser Finanzwelt zu tun hatte, der weiß, dass auch diese Welt Menschen mit Haut und Haaren erfassen kann. Die Stimmung von gewissen Finanzmenschen wird vom Aktienindex bestimmt. Steigt der Dax, steigt die Stimmung, fallen die eigenen Aktien ins Bodenlose, kann die Opernaufführung, die man gerade besucht, noch so ergreifend sein, man kommt aus dem Grübeln nicht heraus. Die Schwankungen der Märkte, die unerwarteten Turbulenzen bei einem Unternehmen, bei dem man sich engagiert hat, die fehlende Kreditzusage, all das kann den Finanzmenschen sehr schnell aus dem seelischen Gleichgewicht bringen. Und auch die Ehefrau des Finanzmenschen, der Freund, der Nachbar, sie alle sind davon indirekt betroffen. Wollte man sich andererseits dieser künstlichen Welt ganz bewusst entziehen, wäre einem also ziemlich egal, was mit dem eigenen Geld geschieht, wäre einem gleichgültig, wie sich die Wirtschaft entwickelt, würde man sich die Stimmung durch all das nicht verderben
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