BLUFF!
Schon in den ersten christlichen Jahrhunderten waren immer wieder Leute aufgetreten, die behaupteten, die Erlösung gebe es nur wirklich, wenn man über christliches Geheimwissen verfüge, das nicht jedem zugänglich sei. Gnostiker nannte man später solche Leute. Die Gnosis war zweifellos die größte Gefährdung des frühen Christentums. Den Verlockungen, zu einem neuen elitären Mysterienkult zu werden, gaben die Christen jedoch nicht nach. Ihre heiligen Schriften verboten ihnen das. Die dort niedergelegten Lehren Jesu Christi liefen geradezu auf das Gegenteil hinaus. Vor allem der berühmte erste Johannesbrief war ein Befreiungsschlag gegen jeden, der lehren wollte, man könne durch Wissen, durch bloßes Erkennen erlöst werden:
»Brüder und Schwestern, wir sollen einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt, ist aus Gott gezeugt und kennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe.«
Christen sind keine Gnostiker, sondern von ihren frühesten Zeiten an in gewisser Weise A-Gnostiker. Sie glauben nicht an ein Wissen, sondern an eine Person, sie glauben nicht an eine Lehre, sondern an eine Botschaft, und die Bibel ist eine einzige Warnung vor Leuten, die behaupten, exklusiv den Durchblick zu haben.
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III . Finale
1. Die Vergewaltigung der Geschichte –
Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?
I st die Geschichte von dem römischen Inquisitor wahr oder falsch? Vielleicht haben Sie sich das gefragt, lieber Leser, denn im Grunde scheint es doch ganz unglaublich, dass ausgerechnet ein Mitglied der Inquisition sich gegen Hexenverbrennungen ausspricht, ein Mitglied jener sinistren Behörde, die landauf, landab Tausende von Menschen auf dem Gewissen hatte, die die Lichtgestalt moderner Wissenschaft, Galileo Galilei, einkerkerte. Und war nicht ohnehin die katholische Kirche verantwortlich für die Kreuzzüge, die perverse Sittenlosigkeit eines Papstes Alexander VI . und zugleich für die merkwürdigen Auswüchse einer vormodernen Sexualmoral?
Es ist nicht einfach, dazu sachlich Stellung zu nehmen. Denn diese Überzeugungen sind nicht nur auch bei historisch ansonsten völlig uninteressierten Menschen weit verbreitet, sie gehören sozusagen zu den tragenden Grundfesten der allgemein herrschenden Welt-Anschauung. Wer diese Auffassungen über die Kirche vertritt, erwartet keine Antwort oder gar Widerspruch, er erwartet Bestätigung. Wer sie dagegen auch nur in Ansätzen bezweifeln würde, liefe Gefahr, nicht rationale, sondern emotionale Reaktionen auszulösen, so wie jemand nicht seelenruhig von oben zusehen würde, wie ihm ein anderer das Kellergeschoss seines Hauses zertrümmert. Alle diese Überzeugungen sind also fester unbezweifelbarer Bestandteil im Empörungshaushalt unserer Gesellschaft, sie gehören zu ihrer Identität.
Was aber, wenn tatsächlich diese oben genannten weit verbreiteten Vorurteile – von vorne bis hinten falsch wären? Was, wenn sie einer nüchternen historischen Überprüfung gar nicht standhielten? Und wenn sich das tatsächlich so herausstellen würde, woran könnte es um alles in der Welt liegen, dass sie sich dennoch so allgemeiner Wertschätzung erfreuen? Vor allem aber, was wären die Konsequenzen einer solchen verblüffenden Entdeckung?
Machen wir es möglichst kurz: Die Geschichte von dem römischen Inquisitor stimmt, und dieser später zum Kardinal beförderte Francesco Albizzi war mit seiner Haltung kein flippiger Außenseiter in seinem Büro, sondern er repräsentierte den nüchternen Geist dieser Behörde. Wo die Inquisition Einfluss hatte, gab es keine Hexenverfolgung. Die Forschung ist sich inzwischen darüber im Klaren, dass Hexenverfolgung ein mitteleuropäisches und da insbesondere ein deutsches Phänomen war, dass sich Katholiken und Protestanten dabei gleichermaßen schuldig machten, und es war vor allem die weltliche Gerichtsbarkeit, die die Verfahren vorantrieb. Dennoch luden die Römische und die Spanische Inquisition mit der gegen alle Prinzipien der frühen Kirche verstoßenden Aburteilung von Häretikern Schuld auf sich, auch wenn es eben nicht »Tausende«, sondern, wie wir den heute offenen Archivalien entnehmen können, bei der Römischen Inquisition in 260 Jahren 97 (etwas mehr als die 84 Ketzertötungen im gleichen Zeitraum allein im protestantischen Zürich) und bei der nicht dem Papst, sondern dem spanischen König unterstehenden Spanischen Inquisition im gesamten spanischen
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