BLUFF!
Weltreich, in den 160 Jahren von 1540 bis 1700, 826 Todesurteile waren.
Es war die antispanische sogenannte »Legenda nera«, die schwarze Legende, die daraus Tausende, ja Millionen und übrigens auch aus Papst Alexander VI . Borgia, einem Spanier, einen Wüstling machte, obwohl doch auch seine italienischen unmittelbaren Vorgänger und Nachfolger Kinder hatten. Und diese antispanische Propaganda verschwieg tunlichst, dass der spanische Papst durch den Vertrag von Tordesillas, der die Welt in Interessensphären zwischen Portugal und Spanien aufteilte, einen womöglich hundertjährigen Krieg zwischen den beiden waffenstarrenden, expandierenden Seemächten verhinderte.
Die schwarze Legende ist eine mit politischer Absicht verbreitete antispanische Propagandaerfindung, eine groteske Geschichtsfälschung, die immer noch wirkt. Noch heute preisen in Rom die Reiseführer Papst Julius II ., einen kinderreichen, kleinlichen, kriegerischen Duodezfürsten, bloß weil er der Mäzen des Michelangelo war, dem er im Übrigen in Wahrheit fast nur Scherereien bereitete. Aber er war eben Italiener. Der friedliebende Spanier Alexander VI . ist bloß gut für die von seinem hexengläubigen kleingeistigen Sekretär Johannes Burckard frei erfundenen absurden Sexgeschichten. Aber dieser Papst war eben Spanier. Im Übrigen war die katholische Kirche im Gegensatz zu Puritanern und anderen stets ausgesprochen sexualfreundlich. Das wissen aber hierzulande heute noch nicht einmal mehr die meisten Katholiken.
Geschichtsfälschungen sind besonders langlebig. Das beste Beispiel dafür ist Galileo Galilei. Gehen Sie in eine beliebige Fußgängerzone und fragen Sie die Menschen nach Galileo, ich garantiere Ihnen, so gut wie alles, was Sie zu hören bekommen, wird falsch sein. Zitieren wir, um es kurz zu machen, den Helden der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, den jüdischen Schriftsteller Arthur Koestler:
»Im Gegensatz zu dem, was in den meisten Darstellungen des Werdegangs der Naturwissenschaften zu lesen steht, erfand Galilei das Teleskop nicht, ebenso wenig wie das Mikroskop, das Thermometer oder die Pendeluhr. Er entdeckte weder das Trägheitsgesetz noch das Kräfte- oder Bewegungsparallelogramm, noch die Sonnenflecken. Er leistete keinen Beitrag zur theoretischen Astronomie; er warf keine Gewichte vom Schiefen Turm zu Pisa und bewies die Richtigkeit des kopernikanischen Systems nicht. Er wurde von der Inquisition nicht gefoltert, schmachtete nicht in ihren Verliesen, sagte nicht ›und sie bewegt sich doch‹ und war kein Märtyrer der Wissenschaft.«
Das ist immer noch in etwa der heutige Stand der Forschung. Warum zum Teufel aber prägen immer noch all jene längst widerlegten Klischees mit großer Hartnäckigkeit das Bild der katholischen Kirche? Warum kann man das nicht einfach sachlich und emotionslos als falsch widerlegen und zur Tagesordnung übergehen?
Das hat sozialpsychologische Gründe. Die Gesellschaft braucht dieses Klischee. Gerade die früher so autoritätshörigen Deutschen haben sich verständlicherweise besonders gründlich auf den »Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (Alexander Mitscherlich) begeben. Die Väter selbst, nach Freud Repräsentanten für die Geschichte und die Normen einer Gesellschaft, verweigern ihre Rolle als pubertäres Protestobjekt, und noch nicht einmal gegen so etwas wie »Vater Staat« kann man verlässlich demonstrieren wie noch 1968, da sich heute schlimmstenfalls die betroffenen Politiker nach Lektüre einiger Umfrageergebnisse der Demonstration gegen sich selbst anschließen werden.
Emanzipatorischer Protest aber schafft Identität. Wohin also mit dem so notwendigen, aber nicht gelebten Protest, mit dieser unbändigen Wut gegen »die da oben«? Und da gibt es in dieser Gesellschaft sozialpsychologisch gesehen nur noch eine einzige widerständige protestable Institution: die katholische Kirche. Selbst wer aus Protest aus der evangelischen Kirche austrat, begründete das in den neunziger Jahren statistisch gesehen vor allem mit Papst, Zölibat und dem damaligen Umgang mit Eugen Drewermann. Um als Protestobjekt tauglich zu sein, muss das öffentliche Bild dieser Kirche das verlässliche Gegenbild dessen sein, worauf man selbst stolz ist, also am besten: sexualverbietend, fortschrittsfeindlich, irrational. Und so saugt man begierig auf, was zu diesem Klischee zu passen scheint, und reagiert aggressiv auf alles, was einem, und sei es mit noch so seriösen wissenschaftlichen
Weitere Kostenlose Bücher