Blumen für den Führer
jedes Mal das Gefühl gab, in einem Netz gefangen zu sein. Sie musste die Hände übereinander legen, damit man nicht die Unruhe sah.
»Dieses Gespräch heute Morgen im Speisesaal«, fuhr die Leiterin fort. »Wie bereits gesagt, würde ich mich freuen, wenn Sie sehr behutsam wären mit den Mädchen. Die Seelen dieser Kinder sind noch sehr weich und formbar. Ich weiß, dass ein Mädel wie Reni intellektuell ziemlich reif ist. Aber was ist mit den anderen, Monika Otten, Janka Nieß, das sind wirklich noch Kinder, Fräulein Knesebeck. Oder Hilde Fechner.«
Sie sah Waltraut eindringlich an. Das Gesicht der Leiterin war kantig, fast männlich, und die weinerliche, hohe Stimmlage passte nicht dazu.
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass jedes dieser Mädel heimlich daran denkt, aus dem Heim zu verschwinden, um die Welt kennenzulernen. Wir sind kein Gefängnis. Das einzige Mittel, sie hierzubehalten, ist unser erzieherisches Geschick.«
Waltraut fand nicht die geringste Lücke, selbst etwas anzumerken.
»Wir sind unter uns, Waltraut«, sagte die Misera etwas leiser.
»Denken Sie etwa, mir gefällt es, wie sich die Welt seit ein paar Jahren verändert? Ich telefoniere wöchentlich mit dem Rheinland. Auch die Direktoren sind verstört und unsicher geworden. Natürlich sagen sie mir: Lassen Sie sich ja nicht einschüchtern, wir stehen hinter Ihnen, Ulmengrund muss Ulmengrund bleiben und so weiter. Aber kann man diesen Herren in die Seele blicken? Wir sind eine private Einrichtung, noch, denn Sie wissen ebenso wie ich, dass die staatlichen Gesetze auch für uns Gültigkeit haben. Es gibt Sachzwänge und man hat natürlich längst ein Auge auf uns geworfen.«
Waltraut nickte.
Ihr Verhältnis zur Leiterin war bislang unauffällig gewesen. Die Misera hatte Anweisungen gegeben, wenig Kritik geübt, hatte eine zurückhaltende Freundlichkeit an den Tag gelegt und nicht die geringste Privatheit durchscheinen lassen. Man arbeitete miteinander, lebte jedoch nebeneinander her. Waltraut redete öfter und länger mit den Kindern als mit ihren beiden Kolleginnen oder gar mit Frau Misera.
Der Tagesablauf war festgelegt. Aufstehen um sechs Uhr, Morgengebet und Frühstück, während der Schulzeit Abmarsch mit dem Bus nach Fulda, nachmittags Hausaufgaben, Pflichten im Haus, freiwillige Landwirtschaftseinsätze in der näheren Umgebung, Abendessen um achtzehn Uhr dreißig, danach manchmal Musizieren oder Vorlesen, abschließend Zubettgehen und um einundzwanzig Uhr Nachtruhe.
»Ich glaube«, sagte Waltraut, »Reni ist ein außergewöhnlich begabtes Kind. Sie will Medizin studieren und hat umrissene Vorstellungen von diesem Beruf. Sie erfindet für die Mädel charmante Geschichten, in denen der Negerarzt Schweitzer eine Rolle spielt.«
»Wer?«
»Doktor Albert Schweitzer. Er hat vor dem Krieg im afrikanischen Urwald ein Krankenhaus gebaut.«
Die Misera schüttelte erstaunt den Kopf.
»Wenn ich mir vorstelle, Reni wäre nach dem Tod ihrer Tante in eines der üblichen Fürsorgeheime gekommen«, fügte Waltraut hinzu.
»Diese Dame war nicht einfach ihre Tante«, sagte die Leiterin. »Das sind nun hochvertrauliche Mitteilungen, Fräulein Knesebeck, und mehr darf ich Ihnen dazu nicht sagen. Das Mädel hat Zukunft, glauben Sie mir, und zwar weil es eine Herkunft hat.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, das Sie bitte ebenfalls für sich behalten, so lange, bis ich es für richtig erachte, unsere Gemeinschaft davon in Kenntnis zu setzen.« Sie holte Luft und atmete aus, es klang wie ein Seufzer. »Das ist der eigentliche Grund unserer Unterredung. Ich vertraue Ihnen, Waltraut.«
Waltraut fühlte sich weiter unwohl. Es gelang ihr nicht, zu entscheiden, ob sie auf die angebotene Nähe eingehen durfte oder nicht.
»Sie wissen«, fuhr die Misera fort, »dass am ersten August, also sehr bald, in Berlin die elften Olympischen Sommerspiele eröffnet werden. Der Führer und Reichskanzler verbindet damit einen überaus wichtigen Auftritt vor der Weltöffentlichkeit. Es kommen Sportler aus neunundvierzig Ländern. Die Regierung verspricht sich von dieser Veranstaltung natürlich viel, wie Sie sich denken können. Es wird sozusagen ein Weltfriedensfest, und wir haben in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, das Ansehen unseres Hauses in den Augen der Berliner Regierung auf ein stabiles Fundament zu stellen, verstehen Sie? Unsere industriellen Geldgeber im Rheinland und
Ferdinand Graf Haardt haben mit
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