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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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sie für die Segelflieger ein Hinweis waren, sich von warmen Aufwinden in die Höhe tragen zu lassen. Dazwischen fiel die Luft herab und ließ auch das Flugzeug sinken. Wenn man geschickt war, konnte man sich von Wolke
zu Wolke hangeln und ein schönes Stück über das Land fliegen.
    Sie gingen schweigend.
    Es roch nach frisch gemähtem Heu. Über dem Weg standen flatternde Lerchen und sangen, als sei nichts passiert. Unter den Stiefelsohlen knirschte der Sand. Die weite Stille dahinter tat gut. Beide hatten sie noch Vaters Stimme im Ohr, die man nicht leicht hinter sich lassen konnte.
    »Warum hauen wir nicht beide ab?«, sagte Helmuth.
    Jockel hatte befürchtet, dass er so etwas sagen würde. Er hatte Angst davor und war zugleich stolz, dass Helmuth ihn nicht mehr wie einen kleinen Jungen behandelte.
    »Wir laufen nach Fulda«, fuhr der Ältere fort, »und sehen zu, dass wir einen Güterzug erwischen. Hamburg. Geschieht dem Alten recht. Siggi hat mir wieder einen Brief geschrieben. Er sagt, wir können kommen, es gibt im Hafen jede Menge Arbeit. Und Mädchen überall …«
    »Und Mutter?«, sagte Jockel.
    Helmuth schwieg.
    Sie kamen durch eine Schonung mit halb erwachsenen Fichten. Am Wegrand trocknete geschlagenes Holz und duftete vom morgendlichen Regen. Im Schatten des Waldsaums glitzerte das feuchte Gras, zwischendrin reckten sich die ersten grau gefleckten Riesenschirmlinge empor und hatten schon hauchzarte Krägen.
    »Stell dir mal vor«, sagte Helmuth, »wenn wir vorne am Bug stehen und die Elbe hinunterfahren, und wenn sie dann immer breiter wird, und plötzlich siehst du weit hinten diese Linie, die niemand richtig fassen kann. Das Meer! Du siehst diese Linie und in Wahrheit gibt es sie überhaupt nicht. Mannomann.«

    Jockel blickte flüchtig zur Seite. Dann nahm er seinen Mut zusammen und sagte: »Alles, was man sieht, das gibt es auch.«
    »Glaubst du.« Der Bruder lachte knapp.
    Jetzt sah Jockel ihn neugierig an. Keiner von beiden hatte je das Meer mit eigenen Augen gesehen.
    »Guck da!« Helmuth zeigte durch eine Schneise nach Süden. Jenseits sah Jockel ein kleines Stück von einem kahlen Hügelrücken, der nicht so hoch war wie die Wasserkuppe. Ein Flugzeug drehte Kreise.
    »Denk lieber an das Schiff! Und du stehst am Bug!« Helmuth schwärmte. »Du stehst ganz vorne an der Ankerwinsch und guckst auf das ewige Wasser, das wie flüssiges Blei ist, und du denkst, dort fahre ich raus, und dahinten liegt irgendwo England, Irland und dann Neuyork. Neuyork , Junge!«, wiederholte er und sagte es, wie man vielleicht »hundert Trillionen« oder »Weltall« sagt. Und es war ja auch ein bisschen so.
    Jockel fiel das schöne Mädel ein.
    Und eine Fantasie: Wie es wohl wäre, ihr zu sagen, dass er übermorgen in Hamburg einen Dampfer betreten und nach Neuyork reisen werde? Er könne ihr, wenn sie es wünsche, eine Karte schicken, die nach zwei Wochen bei ihr eintreffen würde, so flink fahren die Schiffe heutzutage über den Atlantik. Vielleicht würde der Brief auch fliegen, denn seit Fliegerhelden wie Charles Lindbergh vor neun Jahren und der Freiherr von Hünefeld vor acht Jahren das Meer in etwas über dreiunddreißig Stunden überquert hätten, war enorm viel passiert und schon heute absehbar, dass in nicht allzu langer Zeit die Flugzeugverbindung zwischen Europa und Amerika etwas ganz Normales und Alltägliches sein würde.
    »Was denkst du?«, fragte Helmuth plötzlich.

    »Nichts«, log Jockel und blickte zum Himmel, ob das Segelflugzeug nicht womöglich irgendwo …
    Sie hatten die Fichtenschonung durchquert und südwestlich streckten sich die langen, schmalen Gemüsefelder. Das eine hatte dunkle Blätter, das war Kohlrabi, das andere war aus der Ferne ein flauschiger, hellgrüner Dunst am Boden und sah aus wie der Teppich eines Riesen, das waren die Mohrrüben.
    Die Mädchen von Haus Ulmengrund jäteten bereits. Sie standen leicht nach vorne gebeugt in einer lückenhaften Arbeitsreihe, die sich Schritt für Schritt nach vorn bewegte. Mit Bussardblick überflog Jockel die Gruppe auf der Suche nach dem breiten blonden Haarnest. Er suchte nach dem hübschen Mädchen. Aber die meisten Mädel trugen bunte Tücher auf dem Kopf, die sie im Nacken zugeknotet hatten.
    »Also, was ist?«, bohrte Helmuth. »So ein Angebot kriegst du nur einmal. Wenn du dir immer nur Sorgen um Mutter machst, kommst du nie dort raus. Ich weiß, wie man in Fulda auf den Güterbahnhof kommt. Wir packen Proviant ein und schleichen

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