Blut der Wölfin
ihn dann wieder in sein dimensionales Limbo zurückrutschen.
Mittlerweile hatten wir die Aufmerksamkeit einiger Anwohner erregt. Während Jaime Belfour zuhörte, hatte ich ein paar Fragen abgewehrt, wobei ich den Leuten den Weg versperrte, bevor sie nahe genug herankommen konnten, um mitzukriegen, wie Jaime mit sich selbst diskutierte. Als sie Belfour zurückgeschickt hatte und wieder zu fischen begann, übernahmen Clay und ich die Initiative; er machte Fotos, ich spielte Journalistin und befragte die Neugierigen. Wenn man die richtigen Fragen stellt, wird man die Leute erstaunlich schnell los. Als die erste Welle wieder in den Häusern verschwunden war, kehrte ich zu Jaime zurück.
»Irgendwas gefunden?«, flüsterte ich.
»Ich … bin mir nicht sicher. Eine Präsenz spüre ich da noch, und ich glaube, es ist ein Mann.«
»Könnte unser Mann sein. Gibt er sich schüchtern?«
»Kommt mir eher verwirrt vor.«
»Nicht weiter überraschend, wenn er seit hundert Jahren da drinsteckt.«
»Ich versuche ihn näher ranzulocken. Da – jetzt hat er mich gesehen. Er kommt näher. Ja, es ist ein Mann, Ende fünfzig vielleicht … Los geht’s.«
Lyle Sanderson, einundsechzig, behauptete, am Abend mit seinem Hund draußen gewesen zu sein, als plötzlich »alles schwarz wurde«. Höchst verdächtig … außer dass er unsere Prüffragen über das einundzwanzigste Jahrhundert mit fliegenden Fahnen bestanden hatte. Eine kurze Anfrage bei der nächsten Anwohnerin, die aus ihrem Haus gekommen war, bestätigte uns, dass ein Mann namens Lyle Sanderson in derselben Straße wohnte … und dass ein Nachbar seinen Hund gestern Abend herrenlos hatte herumlaufen sehen.
Jaime suchte das Portal noch eine Weile nach weiteren Personen ab, aber irgendwann schüttelte sie den Kopf.
»Leer«, sagte sie.
»Also hat Hull gelogen.«
»Oder Jack the Ripper ist anderswo. Aber hier ist er jedenfalls nicht, und das bedeutet, er wird auch nicht hier rauskommen.«
Ich sah auf den feinen Riss im Asphalt hinunter, mit dem alles angefangen hatte. »Die Tür in die andere Richtung ist aber noch offen, oder? Es können noch mehr Leute durchkommen. Wie Lyle Sanderson.«
»Es ist nicht einfach. Man muss genau die richtige Stelle erwischen und im genau richtigen Winkel. Überleg mal, wie viele Leute in den letzten Tagen hier drübergelaufen sein müssen. Nur drei von ihnen sind durchgegangen. Wahrscheinlich könntest du drauf herumtanzen, und es würde nichts passieren.« Sie sah wieder auf den Riss hinunter. »Empfehlen würde ich es allerdings nicht.«
Clay schüttelte den Kopf und ging zum Gehweg hinüber.
»Sie werden sich an nichts davon erinnern, oder?«, fragte ich. »Wie sie in dieses Portal geraten sind, dass sie mit dir geredet haben?«
»Nichts. Genau wie dieser Hull. Er erinnert sich bloß, wie er reingeraten ist und wie er rausgekommen ist, was mich annehmen lässt, dass
der
Teil seiner Geschichte jedenfalls stimmt.«
»Und der Rest?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich hab den Mann nie getroffen, aber diese Geschichte, dass er eine Art ›Verbindung‹ zu dem Zombiemeister spürt?« Sie schüttelte den Kopf und rückte ihre überdimensionierte Handtasche auf der Schulter zurecht. »Ich habe Jeremy schon gesagt, das würde ich für Blödsinn halten – wenn Hull nicht gestorben ist, ist er kein Zombie, also hat er keine Verbindung zu einem Zombiemeister. Aber wie Jeremy gesagt hat – es kann ja nicht schaden, es auszuprobieren.«
»Dann rufe ich mal an und frage, wie es dort gegangen ist.«
»Moment«, sagte ich zu Jeremy. »Da kommt ein Polizeiauto mit Sirene die Yonge Street rauf, ich verstehe dich nicht mehr.«
Er wartete einen Moment und sagte dann: »Wir sind …«
»Warte, da kommt noch eins.«
»Ich hör’s bis hier. Wie viel Ärger habt ihr drei da angerichtet?«
»Wahnsinnig komisch.«
»Wir sind an der Kreuzung Bay Street und Gerrard Street, wenn ihr ein Taxi nehmen wollt.«
»Das ist nahe genug, um zu Fuß zu gehen. Wie ist es mit Hull gegangen?«
Schweigen.
»Er steht neben dir, oder?«, sagte ich. »Und es ist auf nichts rausgelaufen?«
»Es sieht ganz so aus.«
»Wir kommen hin.«
Ich rief Rita Acosta an, eine Journalistin, die ich aus meiner Zeit bei
Focus Toronto
kannte. Inzwischen arbeitete sie bei der
Sun,
und wir tauschten gelegentlich noch Tipps aus. Jetzt allerdings brauchte ich jemanden, der mir bestätigte, dass Lyle Sanderson wirklich vermisst wurde.
»Sanderson, sagst du?«
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