Blut und Harz
Laut rief sie zu ihm und Reimund herüber: »Wer von euch zuerst auf der kleinen Insel ist, darf mir nachher noch den Rücken eincremen.«
Ein mechanisches Läuten riss Erik zurück in die Gegenwart, zurück in die Küche seines Architektenhauses. Das Geräusch stammte von der Haustüre und war unverkennbar.
Erik seufzte. So stürmisch läutete nur der kleine Italiener vom Marktplatz mit dem Abendessen.
***
Die Tortellini Burrata schmeckten hervorragend. Natalja hätte am liebsten noch mehr gegessen, wäre nicht dieser bittere Beigeschmack in der Luft gehangen. Es lag nicht an den Kochkünsten des örtlichen Italieners - der beherrschte sein Handwerk meisterlich - aber die Stimmung am Tisch war nicht gerade erquickend. Elias hatte kein Wort mehr geredet, seit sie aus dem Gästezimmer nach unten geschlichen waren und an seiner Körperhaltung sah sie deutlich, wie angespannt er war. Sein Vater hingegen hatte sich nach allen Regeln der Höflichkeit vorgestellt. Er besaß sogar so viel Taktgefühl, die Peinlichkeit gar nicht erst anzusprechen.
In diesem Moment lehnte Erik sich scheinbar zufrieden und gesättigt zurück. Mit einer eleganten Bewegung leerte er sein Weinglas und schenkte sich erneut nach. Natalja beobachtete ihn, während sie sich ihre letzte Nudel in den Mund schob.
Alter fünfzig aufwärts. Durchtrainierter Körper, Schwimmer, wie Elias es einmal erwähnt hatte. Dickes, fast schwarzes Haar. Glattrasiertes Kinn. Dunkler Anzug. Weißes Hemd. Violetter Schlips mit silberner Anstecknadel. Unbeugsames Selbstvertrauen. Dunkelbraune, durchdringende Augen. Diesen entging wenig. Details zählten bei diesem Mann.
»Nachdem wir alle so gut gespeist haben, würde mich nun doch interessieren, wer Sie eigentlich sind«, eröffnete Erik das Gespräch. »Oder soll ich erst noch etwas über mich und meinen Sohn erzählen?«
Elias wollte etwas erwidern, doch Natalja legte ihm zuvorkommend die Hand auf den Arm. Sie sah, dass Erik diese kleine Geste nicht entging. »Nein, das ist schon gut. Elias hat mir ja schon viel von Ihnen berichtet, von daher ist es nur gerecht, wenn ich anfange.« Sie legte ihr schmeichelndes Lächeln auf, das sie sich in ihren bisherigen Berufsjahren angeeignet hatte. Die Erinnerung an ihr weit zurückliegendes Vorstellungsgespräch bei der Gärtnerei kam ihr in den Sinn. Da sie sich gerade ähnlich nervös fühlte und Erik ganz Geschäftsmann war, würde sie damit sicher nicht vollkommen falsch liegen. »Wie ich vorhin schon sagte, ich heiße Natalja Orlow. Sie können mich aber gerne Natalja nennen.« Erik nickte und fixierte sie mit seinen dunklen Augen. »Und wie Sie sicher am Namen erkennen, stamme ich ursprünglich aus Weißrussland. Aber ich bin bereits seit meiner Kindheit in Deutschland.«
»Darf ich fragen, wo du geboren wurdest?« Erik winkte im selben Moment ab, als er die Worte aussprach. »Entschuldige. Ich hatte nur schon einmal Pläne, in Weißrussland ein Hotel zu eröffnen. Von daher kenne ich mich etwas aus. Ich bin nur neugierig.«
Sie lächelte verstehend. »Ich wurde in Gomel geboren. Ich denke nicht, dass Sie die Stadt kennen.«
Der kritische Gesichtsausdruck von Erik Ritter signalisierte ihr, dass es ihm doch ein Begriff war. »Das ist doch die zweitgrößte Stadt Weißrusslands? Darf ich fragen, wann du geboren wurdest.«
Irgendetwas an der Art, wie Erik Ritter seine Fragen stellte, gefiel Natalja nicht. Er wirkte so bohrend, so journalistisch. Aber sie wollte den ersten Gesprächsfaden an diesem Abend nicht sofort wieder abreißen. »1987.«
Eriks Furchen auf der Stirn wurden noch einen Tick tiefer. Von der Seite vernahm sie die gereizte Stimme ihres Freundes.
»Warum runzelst du so die Stirn? Stimmt was nicht? Ist dir das Essen nicht bekommen? Oder drehen dir die kleinen Kobolde eine Schraube durch Gehirn?«
Erik löste nach einigen Herzschlägen seinen Blick von Natalja und musterte kühl seinen Sohn. »In deinem Hirn sollten die Kobolde bei diesen drei Schlagwörtern etwas zum Klicken bringen. Weißrussland, Gomel, Mitte 1980. Deine Freundin ist ein Kind von -«
»Tschernobyl.« Natalja seufzte leidig. »Herr Ritter, das ist mir durchaus bewusst. Ich wurde etwa zur Zeit der Katastrophe gezeugt, doch als meine Mutter Darja erfuhr, dass sie schwanger mit mir war, da floh sie nach Deutschland. Mein Vater blieb alleine zurück. Er starb an Schilddrüsenkrebs, eine Folge von Tschernobyl.«
Betretenes Schweigen legte sich über den Raum, bis Erik sich
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