Blut und Harz
Nacht. Eine Nacht wie er sie liebte.
Zwei leuchtende Punkte erschienen plötzlich neben dem Weg und Alexander Kowalski drosselte augenblicklich die Geschwindigkeit. Aufmerksam beobachtete er das Reh, das vor ihm am Straßenrand aufgetaucht war und seinen herannahenden Wagen mit glänzenden Knopfaugen anstarrte. Alexander bremste noch weiter ab. Oft waren die Tiere zu zweit oder sogar in Gruppen unterwegs. Und einen Wildunfall konnte er nun am allerwenigsten brauchen.
Aber so weit kam es nicht. Als der Wagen fast auf gleicher Höhe war, sprang das Tier mit einem hastigen Satz wieder hinein in das stoppelige Feld und verschwand aus Alexanders Blickwinkel.
Der Wagen beschleunigte wieder merklich und Kowalski konzentrierte sich auf seine Umgebung. Er war die Strecke in den letzten Tagen bereits drei Mal gefahren, einmal tagsüber um sich zu orientieren und zweimal nachts um sich jede Kurve, jede Abzweigung, jede Besonderheit genau einzuprägen. Er benötigte kein Navigationssystem, auch wenn es ihm einige Arbeit erspart hätte. Doch jede Medaille hatte zwei Seiten und er wäre mit einem Navi nur ein unnötiges Risiko eingegangen. Er wusste, dass Spezialisten die genauen Fahrwege eines Autos rekonstruieren konnten, wenn das Navi aktiv war. Genauso wie mit einem iPhone.
Ein kurzer Blick auf den Tageskilometerzähler verriet ihm, dass er in 1,4 Kilometern abbiegen musste.
Just in diesem Moment endete das seichte Popgedudel aus dem Radio und der bekannte Nachrichtenton des lokalen Radiosenders erscholl aus den Lautsprechern.
»Es ist kurz nach halb 12 und hier sind die aktuellsten Nachrichten aus Bayern und der Welt.
Berlin. 5 Tage nach dem verheerenden Tornado zieht Bürgermeister Klaus Wowereit die traurige Schreckensbilanz. Zerstörte Häuser, entwurzelte Bäume und fast 3500 Tote. So lautet nach seinen Angaben die Vernichtung, die der Wirbelsturm mit Geschwindigkeiten bis zu 265 Kilometer pro Stunde mit sich brachte. Das Unwetter zog mitten durch das Stadtzentrum und richtete dort gewaltige Schäden an. Wie ein Sprecher der Stadt mitteilte, wurden bei dem Sturm 20 bis 25 Prozent der Häuser beschädigt. Der Tornado habe eine etwa fünf Kilometer lange Schneise der Verwüstung quer durch das Zentrum der Stadt geschlagen.
Laut der Berliner Zeitung wurde ein Standort der Charité von dem Tornado schwer getroffen. Fotos zeigten ein völlig ramponiertes Gebäude, über das Augenzeugen dem Fernsehsender N24 sagten, es sehe einsturzgefährdet aus.
Bundeskanzlerin Angela Merkel übermittelte den Opfern des Unwetters bereits ihr Mitgefühl und würdigte die Arbeit derer, die ›in dieser sehr schweren Zeit‹ ihren Freunden und Nachbarn helfen. Merkel befand sich zur Zeit des Unwetters-«
Der Nachrichtensprecher verstummte abrupt, als Alexander den Schalter umlegte. In 400 Metern musste er abbiegen. Seine Konzentration durfte jetzt nicht mehr gestört werden. Leicht nahm er seinen Fuß vom Gaspedal, als der schmale Feldweg in Sicht kam. Nochmals vergewisserte er sich, dass weder vor ihm noch hinter ihm ein Auto oder der verräterische Lichtschein eines Fernlichtes zu sehen war. Aber die Landschaft umgab ihn traurig und einsam.
Der BMW bog zügig in den noch anfänglich geteerten Feldweg ein. Kowalski löschte die Lichter und schlagartig umfing ihn tintenschwarze Dunkelheit. Im Schritttempo rollte das Fahrzeug weiter durch die bewölkte Nacht. Hin und wieder riss die Wolkendecke für einen Moment auf und der Schein des abnehmenden Mondes spendete sein spärliches, knochiges Licht, doch als der Weg in den Wald mündete, wurde auch der letzte Rest Helligkeit ausgesperrt. Der geteerte Weg verwandelte sich spürbar in einen geschotterten Waldweg. Nachdem der Waldrand etliche Meter hinter ihm lag, schaltete er das Standlicht wieder ein, um nicht vom Weg abzukommen. Im Schutz der Bäume und Sträucher würde das Licht von der entfernten Straße nicht mehr zu sehen sein.
Die schleppende, mittlerweile holprige Fahrt ging noch fünf Minuten ereignislos weiter, dann erreichte der BMW eine kleine Lichtung inmitten des Waldes, wo Alexander den Wagen wendete und abfahrtbereit am Wegesrand abstellte.
Das leise Brummen des Motors erlosch, als der Schlüssel aus der Zündung gezogen wurde. Bedrückende Stille umfing ihn, doch er genoss die Ruhe vor dem Sturm. Die letzten Minuten vor einem Auftrag. Die Phase, in der er nochmals Kraft und Ruhe tankte. Er wusste nie, wie lange ein Auftrag dauern würde, sobald er begonnen hatte. Die
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