Blut und Harz
naturgemäß einen Tick stärker. Zum Glück konnte sie nach Hause laufen.
»Mach dir keinen Stress, Henry«, antwortete sie ohne Groll in der Stimme. Vielleicht war es auch besser so. Sie wären vermutlich hier gesessen, hätten über ihre und seine Arbeit geplaudert und wären anschließend zu ihr gegangen. Dort hätten sie es miteinander getrieben und danach wäre Funkstille eingekehrt. So lief es in Siennas Leben doch immer. »Ich glaube kaum, dass bei diesem Schneechaos noch ein Bus fährt. Lass es uns einfach verschieben, okay?«
Henry war sichtlich erleichtert, dass sie ihm die Absage nicht übel nahm. Er klang bereits gelassener. »Okay Sienna. Bist einfach ein Schatz. Ich melde mich dann-«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Der Akku war aufgebraucht.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
Sienna starrte verärgert auf das leere Handy, dann steckte sie es grummelnd ein und schob sich eine weitere Pommes mit glänzender Mayonnaise in den Mund. Naja. Es war ja alles gesagt worden und es war mit Sicherheit besser so. Wenn das Schicksal nicht wollte, dass sie sich mit Henry traf, dann hatte das seinen Grund. Es musste einfach so sein.
Sienna schnabulierte an ihrer mächtigen Chicken Combo weiter. Als ihr die Fritten schon aus den Ohren herausquollen, wischte sie sich zufrieden die fettigen und mit Salz überzogenen Hände an einer Serviette ab. Anschließend spülte sie die restlichen Krümel, die sich zwischen ihren Zähnen verfangen hatten, mit dem Pint Cider hinunter. Den Rest des Abendessens ließ sie einfach stehen. Sie schlüpfte in ihre warme Jacke von Burton, dann eilte sie über den gemusterten Teppich, der sie an königliche Gemächer erinnerte, zur Ausgangstüre.
Eisige Temperaturen begrüßten sie, dazu dichter, schmeichelnder Schneefall. Alle Geräusche waren verstummt. Kein Auto bewegte sich mehr durch die London Road. Sie sah zwei einsame Fußgänger mit aufgeklappten Schirmen auf der anderen Straßenseite vorbeihuschen und in einem Tesco Supermarkt verschwinden.
Sie schüttelte sich schon im Vorfeld, dann trat sie gewappnet hinaus in den weißen Niederschlag. Als sie die Courts of Justice erreichte, sah sie selbst aus wie ein Schneemann. Ihre schwarze Jacke war unter einer dicken, grauen Kruste verschwunden. Sie spürte bereits das feuchte Nass an ihren Zehen. Die Sneaker waren durchweicht.
Brummend zog sie den Kopf noch weiter zwischen die Schultern und presste die Arme noch fester um den Körper. Sie beschleunigte ihre Schritte so weit, dass sie auf dem schmierigen Untergrund nicht Gefahr lief, zu stürzen. Dann passierte sie die hölzerne Statue.
Sienna blieb abrupt stehen. Ungläubig starrte sie zur Seite. Der Mönch stand immer noch auf dem Baumstumpf, der mittlerweile von Schneeverwehungen fast vollständig verdeckt wurde. Im Bart des Mannes glitzerten Eiskristalle, die wollenen Roben waren von einer dicken Schicht Schnee bedeckt. Mittlerweile lagen mindestens fünfzehn Zentimeter. So etwas hatte Sienna noch nie in Südengland gesehen. Fünfzehn Zentimeter und der Mann quasselte immer noch vor sich hin! Jetzt würde ihm keiner mehr Geld zustecken. Wer auch? Außer ihr war der Weg verlassen. Der Irre hatte die Augen geschlossen, die Arme flehend in den Himmel gestreckt.
Sollte sie dem armen Greis helfen? fragte sie sich. Vielleicht war der Mann verwirrt und benötigte Hilfe. Was, wenn er ziellos umherirrte? Aber er stand seit über einer Stunde auf einem Baumstumpf. Was, wenn sie ihn aus seiner Trance erweckte und er sauer wurde? Was, wenn er sie angriff? Sie sah seine breiten Schultern unter dem weiten Gewandt. Sie würde keine Chance gegen ihn haben.
Sienna bedachte den Mann mit einem letzten, zögernden Blick, dann stapfte sie stumm weiter. Wenn der Mann Hilfe brauchte, dann würde ihm schon jemand anderes helfen.
Schnee knirschte krachend wenige Minuten später unter ihren Füßen, als sie nach einer gefühlten Winterwanderung in die Brighton Road einbog. Die Straße lag verlassen vor ihr, eine eisige Landschaft, grau in grau. Sienna stolperte. Ihre Füße glitten auf etwas Rutschigem aus, sie ruderte wild mit den Armen, dann stürzte sie rücklings in die weißen Wogen.
Etwas krachte dumpf in ihrer Hüfte. Ein heißer Schmerz pulsierte wellenartig in ihre Beine hinab. Sie wollte schreien, doch ihr Mund war voll frostigem Nass. Sie würgte, schlug orientierungslos um sich. Überall weiß. Sie spuckte den pappigen Schnee aus, dann sah sie ein schimmerndes Licht in den fallenden
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