Blut und Harz
Verbündete oder bei Erik Ritter musste es eine undichte Stelle geben. Er tippte auf das Letztere. Eine untragbare Geschäftsbasis. Aber eigentlich spielte es keine Rolle mehr. Ihm dämmerte, dass er nämlich überhaupt keine Wahl hatte. Normalerweise schlachtete man zwar seine Milchkuh nicht, aber in diesem Fall lagen die Karten plötzlich anders.
»Gut«, gab Alexander schließlich nach. »Der zehnfache Preis. Aber es gibt eine Bedingung.«
»Die wäre?«
»96 Stunden Zeit. 48 ist bei einem Unfall nicht im Rahmen des Möglichen.«
Der Anrufer am Ende der Leitung überlegte still. Kowalski konnte nur das Rascheln toter Blätter hören. Dann meinte der mysteriöse Auftraggeber: »Einverstanden.«
Kapitel 7
Sienna Parry verließ um 18:40 Uhr ihre Doppelhaushälfte des zweigeschossigen Häuschens in der Brighton Road. Eisige Luft fauchte ihr entgegen, geschwängert mit dem Geruch nach Salz und Meer. In der Ferne heulte irgendwo eine Polizeisirene auf, wurde sofort wieder leiser, bis sie vollkommen verstummte.
Sienna schlug den Kragen ihrer Filzjacke nach oben. Zügig machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt. Im Licht der Straßenlaternen passierte sie mehrere gleichaussehende Häuser: Dunkelrote Ziegel, alte, verwitterte Fenster mit Fensterrahmen, wo die weiße Farbe abblätterte, hölzerne Strommasten und ein Spinnennetz aus Kabeln am dunklen Himmel. Dann mehrere grüne Mülltonnen mit blauen Deckeln, dahinter hohe gepflegte Hecken. Etwas weiter das letzte Haus unter dem wolkenverhangenen Bleigrau, wuchtiger und liebevoller gemauert, mit geschnitzter Haustüre, das bessere Einkommen des Besitzers bezeugend; vor dem Haus einige Sträucher, eine kleine Gartenmauer, gepflegter, englischer Rasen, daneben eine Rolle mit gelbem Wasserschlauch, ein altehrwürdiger Steinpfosten mit einem Schild »Private Forecourt« und in der Wiese ein Bobby Car.
Sienna überquerte den Wendehammer der Einbahnstraße. Bäume säumten den Weg der Straße The Ave , in die sie nach rechts über einen Fußgängerweg einbog.
Der Boden war mit gelben Blättern übersät obwohl die Bäume noch stark belaubt waren. Der Spazierweg führte sie Richtung Kneipenviertel. Sie war nicht in Eile. Um 19:00 Uhr war sie mit Henry im Varsity verabredet. Sie würde überpünktlich in der liebevoll eingerichteten Kneipe ankommen, ihrem Lieblingspub in Southampton. Es gab zwar unzählige Pubs, Restaurants, Bars und Discotheken, doch das Varsity gefiel ihr mit den in verschiedenen Grüntönen gehaltenen und mit Samt überzogenen Sofas, dem dunklen Teppich, den Holzvertäfelungen und der abwechslungsreichen Speisekarte am besten.
Kurz bevor sie die nächste Bushaltestelle passierte, die The Ave in größeren Abständen säumten, zog eine geschnitzte Statue ihre Aufmerksamkeit auf sich. Besser gesagt, Sienna dachte erst, dass man eine Männerabbildung zur Verzierung neben den begrünten Weg gestellt hatte. Irgendein neumodisches Kunstobjekt. Doch die Statue bewegte sich.
Ein Baum war abgesägt worden, nur noch der etwa ein Meter breite Stumpf zeugte von seiner Existenz. Auf dem abgewitterten Holz stand ein Mönch in grünen Wollroben und mit einem erdfarbenen Überwurf. Ein grau melierter Vollbart ragte wuschelig unter der Kapuze hervor. Im schwindenden Licht des Tages und im Halbschatten der Blätter hatte er wie eine Holzstatue ausgesehen. Als sie den Mönch neugierig passierte, sah sie, dass er die Arme erhoben hatte und scheinbar für die Passanten posierte. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
Zumindest mal etwas anderes, dachte sie amüsiert. Keiner, der sich vor das West Quay Shoppingcenter knallte und mit einem leeren Starbucks Becher um Kohle bettelte. Dieser Arme bot wenigstens etwas Show, auch wenn sie nicht gerade ihren Geschmack traf. Sienna kramte ein Pfund aus ihrer Tasche und warf den eingeprägten Kopf der Queen dem Mönch vor die Füße. Lächelnd nickte sie ihm zu, was er scheinbar nicht einmal mitbekam. So vertieft war er in seine Vorführung.
Kopfschüttelnd eilte sie weiter.
Nach wenigen Minuten ging die Straße in die London Road über, neben ihr der Courts of Justice. Eine einsame Schneeflocke taumelte vor ihrem Gesicht herum, streifte zärtlich ihre Wange. Sienna blieb erneut überrascht stehen. Eine zweite Flocke ging zu Boden, gefolgt von einer dritten und vierten. Schnee im Oktober? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Ja, es war verdammt kalt für die Jahreszeit, aber Schnee hatte sie – wenn
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