Blut und Harz
überhaupt – sonst nur im Dezember oder im Januar erlebt. Sie schnaubte verächtlich über das britische Wetter, dann eilte sie über eine Nebenstraße. Die gepunktete Oberfläche, die den Überweg für die Blinden wies, spürte sie rau durch ihre dünnen Turnschuhe. Es war ja noch Herbst. Da mussten die fellgefütterten Winterboots noch fein verpackt im Schrank warten.
Um 18:57 Uhr erreichte sie das Varsity. Sie war überpünktlich und ihr war kalt. Dicke Schneeflocken rieselten nun beständig vom anthrazitfarbenen Himmel. Henry würde es ihr sicher verzeihen, wenn sie bereits einen heimelichen Platz für sie beide reservierte. Er würde mit Sicherheit zu spät kommen. Henry war immer spät dran. Die akademische Viertelstunde musste schon sein, wie er immer scherzhaft betonte.
Durch die doppelflügligen Türen betrat Sienna das Varsity.
Wärme und der wohlige Geruch nach frittiertem Essen schlugen ihr entgegen. Sofort merkte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Sie würde sich eine Chicken Combo bestellen. Southern fried chicken strips, crisp battered chicken bites, onion rings & chips. Sie liebte es. Auch wenn sie danach das schlechte Gewissen plagen würde, was in Anbetracht des fettigen Essens todsicher der Fall war. Alles an der Chicken Combo war frittiert. Dazu Ketchup und Mayo.
Seufzend blickte sich Sienna um. Im hinteren Bereich, neben den Fenstern zur Seitenstraße, waren mehrere Plätze für zwei Personen frei. Sie konnte also erst in Ruhe bestellen. Sie trat an die lang gezogene Theke aus poliertem Holz heran. Eine junge Bedienung schenkte ihr ein warmherziges Lächeln.
»Wie geht’s?« fragte die kesse Blondine freundlich.
Sienna erwiderte die gute Laune. »Gut, danke der Nachfrage. Ich kriege bitte eine Chicken Combo und ein Cider and Black .«
»Wo sitzt du?«
»Ich nehme den Tisch dort hinten.« Sienna deutete mit dem Arm auf einen der freien Fensterplätze.
Die Bedienung nickte, dann begann sie ihr Getränk aus einem der goldenen Hähne zu zapfen. Sienna kramte währenddessen ihr Geld aus der Jackentasche.
Fünf Minuten später saß sie am Tisch, ihren dunkelroten Apfelwein mit Johannisbeersaft vor sich, und starrte hinaus in das fallende Weiß. Das Schneetreiben war noch stärker geworden, ein huschender Vorhang aus weißer Watte. Die andere Straßenseite verschwamm hinter den Flocken, der graue Asphalt verschwand bereits unter einer ersten Decke aus Schnee.
Was sollte man zu diesem Wetter noch sagen? fragte sie sich. Schnee im Oktober! Da musste sich jemand in der Jahreszeit geirrt haben. Entweder man hatte den Kalender für dieses Jahr falsch gedruckt und es war schon Dezember oder jemand da oben im Himmel hatte einfach die Monate vertauscht. Konnte ja bei Oktober und Dezember leicht passieren. Beides endete ja mit »ber«.
Ein kleiner, dampfender Metalleimer wurde vor ihre Nase gestellt und riss sie aus ihrer Grübelei. Darin befanden sich Pommes und die frittierten, panierten Varianten des Hähnchens. Die Bedienung wünschte ihr einen guten Appetit, dann war Sienna mit ihrer fettigen Mahlzeit wieder alleine.
Gedankenversunken begann sie an den dicken, mehligen Pommes zu knabbern. Nach ein paar Minuten warf sie einen ungeduldigen Blick auf ihr Handy. 19:20 Uhr. Henry war überfällig. Im selben Augenblick vibrierte das Telefon in ihren Fingern. Erschrocken zuckte sie zusammen. Henry stand auf dem Display. Sienna seufzte. Das war kein gutes Zeichen. Die letzten drei Versuche waren schon gescheitert. Es lag zwar nur zweimal an ihm, weil sein Auto nicht ansprang, und einmal an ihr, aber trotzdem. Wenn es beim vierten Anlauf nicht klappte, dann würde es auch nichts mehr werden. Sienna nahm ab.
»Hey Henry. Wo bist du?« fragte sie und versuchte ihre Ungeduld zu unterdrücken. »Ich sitz schon hier und mein Essen ist gerade gekommen. Wie lange brauchst du noch?«
»Sorry, Sienna, ich werde es nicht mehr schaffen.« Er klang ernsthaft zerknirscht. »Mein Auto springt ums Verrecken nicht an und der Bus ist wegen des Schneefalls nicht gekommen. Der Nächste fährt frühestens in einer Stunde, wenn überhaupt.« Ein Blick durch die Scheibe ließ sie seine Worte glauben. Es lagen mindestens schon fünf Zentimeter. Sie bezweifelte, dass heute noch irgendein Bus fahren würde, schon gar nicht ans andere Ende der Stadt, wo Henry wohnte. Er hatte eine kleine Wohnung in Bassett Green, einem Randbezirk von Southampton, der zusätzlich noch auf einem Hügel lag. Dort war der Schneefall
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