Blut und Harz
Möglichkeit. Er musste den Killer überzeugen, dass er ihn nicht töten durfte. Aber wie sollte er das anstellen? Wie überredete man einen Mörder nicht zu töten?
Erik ballte die Rechte hilflos zur Faust. Die ganze Geschichte stank bis zum Himmel!
Er wurde aber das Gefühl nicht los, dass der Rabe noch mehr wollte. Er brauchte nicht nur sein Handy, sondern er benötigte noch etwas. Aber was? Vor lauter Aufregung tat sich Erik schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine sonst maschinenartige Logik versagte ihm im wichtigsten Augenblick seines Lebens den Dienst.
»Sie wollen doch mehr als nur das Mobiltelefon«, versuchte er es. Er hatte nichts zu verlieren und vielleicht würde sich der Rabe verplappern. »Es verweist doch nur indirekt auf Sie. Ihre Sicherheitsvorkehrungen sind einwandfrei. Was also wollen Sie hier wirklich? Dokumente? Geld?« Erik wählte die direkte Konfrontation. Normalerweise wäre er sachter vorgegangen, doch ihm rann die Zeit durch die Finger wie staubiger Saharasand.
Von hinten hörte er die angespannte Stimme des Raben.
»Wen haben Sie alles mit der Recherche über das Waldkloster beauftragt. Wen haben Sie alles informiert? Ich will jeden einzelnen Namen.«
Das Waldkloster? Abrupt blieb Erik stehen. Er hatte sich schon im Krankenhaus gefragt, was die Frage über das Kloster bedeutet hatte, doch alles war so schnell gegangen. Die tote Krankenschwester, die Schüsse auf Natalja, seine eigene Entführung! Aber wieso wollte der Rabe wissen, ob er Elias und Natalja eingeweiht hatte? Das ergab doch alles keinen Sinn!
Erik spürte den Lauf der Waffe wieder in seinem Rücken, genauso wie im Krankenhaus, doch es war ihm plötzlich egal. Ihn durchflutete eine seltsame Ruhe, die er noch nie verspürt hatte. Ganz langsam drehte er sich zu seinem Peiniger um.
»Was hat das Kloster mit Ihnen zu tun?« fragte er entschieden.
Bei seinen eigenen Worten dämmerte eine Ahnung in ihm auf. Sein Magen zog sich dabei krampfhaft zusammen. Ein weiterer Puzzlestein fügte sich in das verwirrende Bild.
Der Mann mit der Waffe antwortete nicht. Beide starrten sich nur lange in die Augen. Die des Raben waren klar, eisig und sprühten vor Entschlossenheit.
»Die Namen«, forderte der Killer.
Erik schüttelte energisch den Kopf. Er witterte plötzlich seine Chance. Vielleicht seine einzige. Und Chancen musste man nehmen, wenn sie kamen.
»Erst muss ich Ihnen etwas zeigen«, sagte er. »Kommen Sie. Danach gebe ich Ihnen die Namen.«
Erik sah die Faust zu spät. Sein Kopf wurde heftig zur Seite gerissen, als ihn der Schlag ohne Vorwarnung ins Gesicht traf. Schmerzen explodierten in seiner Wange, heftiger dieses Mal als bei den Hieben im Krankenzimmer. Laut stöhnte er auf, kniff die Augen angesichts des Pochens zusammen. Er spürte Wärme auf seiner Wange. Zäh und rinnend. Blut.
»Ich sage, was hier passiert.« Die Worte kamen langsam. Die unausgesprochene Drohung schwang so deutlich mit, dass Erik nur Nicken konnte. Seine Schläfen pochten dabei wie wild. »Ich lasse mich von Ihnen nicht verarschen. Sie führen mich am Ende noch zu einem mir unbekannten Sicherheitssystem oder zu einem Sicherheitsraum und alarmieren die Polizei. Nein, so läuft das nicht. Aber eines muss ich Ihnen lassen, Herr Ritter. Sie haben Mumm und Courage. Nur wenige haben das in der heutigen Zeit. Los, das Handy! Dann die Namen! Oder muss ich noch deutlicher werden?«
Erik schüttelte vorsichtig den Kopf. Schon diese Bewegung verursachte ein heftiges Ziehen in seinem Wangenknochen. In diesem Moment sehnte er sich nach einem Sicherheitsraum, wie ihn der Rabe angesprochen hatte. Faustdicke Metallwände, eine autarke Versorgung von Wasser, Luft und Lebensmitteln, kleine, flimmernde Monitore, von wo aus er das Haus überwachen konnte, und eine extra abgeschirmte Telefonleitung direkt in die Polizeizentrale. Erik im Raum; der Killer davor.
Dort hätte sich der Rabe seine Krallen stumpf kratzen und seinen Schnabel platt hacken können. Doch einen Panic Room leisteten sich nur Amerikaner oder angsterfüllte, reiche Schnösel, kein bodenständiger Mittelfranke wie Erik Ritter. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als gemeinsam den Weg durchs Haus fortzusetzen.
Sie betraten in diesem Moment das stille Foyer, passierten einen purpurroten Hochglanzschrank, in dem Eriks Winterjacken und Mäntel hingen, darunter standen Wanderschuhe und Gummistiefel. Dahinter folgte der ausladende Wohnraum, der bereits im Halbschatten der Abenddämmerung
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