Blut und Harz
Anschnallen und Tische nach oben klappen. Sicherheitsbelehrungen, Gepäck in die Boxen verstauen oder unter dem Sitz und so weiter. Warme Gerichte standen auf der Bordbistrokarte.
Orange leuchtende Symbole flammten auf und signalisierten, dass man die Gurte nun schließen sollte und man nicht rauchen durfte.
Reimund schloss die Augen. Er hoffte, dass er trotz des ständigen Gemurmels der Leute etwas Ruhe finden würde. Hoffentlich würde das Ehepaar neben ihm nicht in Hysterie verfallen. Eine kreischende Dame oder ein kotzender Rentner waren das Letzte, was er nun brauchen konnte. Es würde ihn nur unnütz Kraft kosten. In wenigen Stunden würde er aber seine ganze Energie brauchen. Die Schöpfung würde seine vollste Konzentration erfordern. Ganzen Körpereinsatz. Nichts durfte schief gehen.
Reimund lehnte sich entspannt zurück. Er rutschte auf dem harten Polster hin und her, bis er eine bequeme Sitzposition gefunden hatte. Dann versuchte er seine Gedanken zur Ruhe zu bringen.
Zeit hatte er nun genug. Mehr als vier Stunden bis zur Costa del Sol. Màlaga erwartete ihn.
Noch bevor die überschaubare Boeing 737 rumpelnd aus ihrer Parkposition gerollt war, war Reimund Schell in tiefe Meditation verfallen.
***
»Scheiß Nebel!« presste Natalja zwischen den Zähnen hervor. Schwer schnaufend trat sie weiter in die schwergängigen Pedale. Diese ratterten und quietschten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich genau befand. Sie konnte knapp fünfzig Meter weit sehen, dann verschwanden die Hausfassaden im Dunst. Sie hätte liebend gerne jemand nach dem Weg zu Erik Ritters Büro gefragt, wo sie nun hin wollte, doch bei diesem Wetter waren die Straßen wie leer gefegt. Ganze vier Autos hatte sie auf dem Weg vom Krankenhaus bis hierher gesehen. Eines davon hätte sie beinahe über den Haufen gefahren. Und Passanten gab es scheinbar nicht.
Wäre der Nebel nicht gewesen, hätte sie sich sicher zurechtgefunden. So schlecht stand es mit ihrem Orientierungssinn nicht. Aber ohne markante Punkte, die sie sich immer einprägte, war eine Orientierung so gut wie unmöglich. Entweder sah sie ihre Anhaltspunkte wie Kneipen, Kirchen, auffällige Werbereklamen gar nicht oder so spät, dass sie schon fast daran vorbei war.
Auf der linken Straßenseite schälte sich ein dunkles Fachwerkhaus aus dem Nichts, das sich drohend über die Straße neigte. Ein schmiedeeisernes, mit grüner Patina überzogenes Wappen, was eine Sau zeigte, hing über dem Eingang. Ein verwittertes, tischgroßes Bierfass stand daneben. Erinnerungen an das mittelalterliche Haus in der Herbstsonne schossen ihr durch den Kopf. Hier war sie mit Elias vor ein paar Tagen vorbeigefahren. Sie erinnerte sich. Er hatte dazu gemeint, dass es eines der ältesten Häuser der Stadt sei. Eine traditionsreiche Metzgerei. Irgendwo in der Nähe musste also Eriks Büro in einer Seitenstraße liegen. Erleichtert beschleunigte sie ihre Fahrt. Sie schöpfte neuen Mut. Aber wo musste sie nun hin? Sie hatte nicht den blassesten Schimmer.
Nach weiteren drei Minuten schweigender Fahrt schimmerten gelbe und rote Lichter durch den Nebel. Das Leuchten wurde intensiver, manifestierte sich zur Werbereklame eines Supermarktes. Licht brannte im Schaufenster, dahinter huschten verschwommene Schemen hin und her, wie Geister, die ihr Grab nicht fanden.
Beim Gedanken an einen Supermarkt meldete sich ihr Magen knurrend zu Wort. Sie hatte mittlerweile bohrenden Hunger, angefacht durch die sportliche Bewegung an der frischen Luft. Zusätzlich war ihr schweinekalt. Ihre nackten Finger kribbelten vom eisigen Fahrtwind, die feuchte Luft brannte fühlbar in ihren Bronchien.
Die Entscheidung fiel im Bruchteil einer Sekunde.
Sie würde sich dort etwas zu Essen und zu Trinken kaufen. Gleichzeitig konnte sie nach dem Weg fragen. Jemand musste ja Erik Ritter kennen. Er war ja kein Niemand.
Sie schwenkte den Lenker herum und steuerte über den gepflasterten Gehsteig. Dann stieg sie ab. Das Fahrrad lehnte sie an die bröckelnde Hausfassade neben den schummrig beleuchteten Eingang. Einen Fahrradständer gab es offensichtlich nicht. Vielleicht lag er auch hinter einer Nebelschwade versteckt, doch Natalja hatte es eilig. Eriks Leben stand auf dem Spiel.
Die Hände fest aneinander reibend, betrat sie den Supermarkt. Vereinzelt schlichen Kunden zwischen den Regalen hin und her, doch insgesamt wirkte der Kaufladen verlassen. Es war unnatürlich ruhig. An einem normalen Tag hörte man angeregte Unterhaltungen,
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