Blut und Harz
Schultern waren nach unten gesackt. Die Wut war so schnell verraucht, wie sie gekommen war.
»Was sollen wir nun tun?« Erik stand offensichtlich unter Schock, doch Alexander wunderte das nicht. Ihn überraschte es sowieso, wie gut sich Erik Ritter trotz der Gesamtsituation hielt.
»Wenden Sie erstmals, dann fahren wir weiter. Das letzte, was wir brauchen, ist eine Polizeistreife, die uns kontrolliert. Später rufen wir Ihre Sekretärin an.«
Erik nickte mechanisch und legte den Rückwärtsgang ein. »Wohin soll‘s gehen? Zurück zu mir?«
»Nein. Ich weise Ihnen den Weg. Wir fahren an einen Ort, wo uns vorerst niemand findet. Weder die Polizei, noch Bruder Raphael.«
***
Ihr Atem ging stoßweise im Rhythmus ihrer Tritte, dazu pochten ihre Oberschenkel und Waden bereits schmerzhaft wie nach einem Halbmarathon. Sie hatte das Fahrradfahren satt. So schnell würde sie nicht wieder auf einen Drahtesel steigen, schon gar nicht auf ein so schwergängiges, altes Teil. Auch der Nebel kotzte sie mittlerweile an. So erfrischend die Luft zu Beginn des Tages gewesen war, umso stärker drückte sie ihr jetzt aufs Gemüt und die schlechte Sicht von wenigen Metern verbreitete das unheimliche Gefühl von Einsamkeit. Natalja fühlte sich isoliert, gekapselt in eine Blase aus Nebel, abgeschnitten von der Welt, verloren für alle Zeit.
Aber ein letztes Ziel war ihr noch geblieben, eine letzte Option: Sie würde zurück zu Eriks Büro fahren und sich dort vorsichtig umsehen. Vielleicht würden Elias Vater und sein Entführer früher oder später dort aufkreuzen. Wenn sich auf diesem Wege auch nichts ergab, dann würde sie schweren Herzens zurück ins Krankenhaus zu Elias fahren. Wenn sie schon Erik nicht retten konnte, dann wollte sie wenigstens ihrem Freund in seinen schwersten Stunden beistehen.
Die Einfamilienhäuser, die die Straße zu beiden Seiten säumten, lichteten sich. Gleichzeitig beschlich Natalja der Eindruck, dass sich die Nebelschwaden auflockerten, die eingeschränkte Sicht etwas besser wurde. Ihre Welt verdoppelte sich.
Ein kleiner Park erschien zu ihrer Rechten; mit Buchs bepflanzte Wege, kleine Büsche und eine gewaltige Weide, deren blattlose Zweige einzelnen Spinnweben gleich herabhingen. Links von ihr, gegenüber dem öffentlichen Garten, erhob sich ein verlassenes Klettergerüst aus dunkelroten Seilen und Holzbalken in den Himmel. Es imitierte die Form eines Marienkäfers: Aus gestrichenen Holzbrettern war der Kopf nachempfunden, zwei runde Ausschnitte markierten die Augen, dahinter lag ein kleiner Raum, in dem sich die kleinen Abenteurer verstecken konnten.
Trotz der Anstrengung schmunzelte Natalja. Das Klettergerüst weckte alte Erinnerungen an ihre Kindheit. In Stuttgart hatte sie jeden Spielplatz mit Klettermöglichkeiten unsicher gemacht. Alle Gerüste hatte sie erklommen, hatte die höchsten Punkte bestiegen, in einer Geschwindigkeit über die die Huberbuam heute nur gestaunt hätten.
Doch jetzt wirkten die Klettergerüste mickrig, nicht mehr monumental wie vor Jahren.
Ihre Erinnerungen wechselten abrupt zu einem Hochseilgarten. Elias hing lächelnd, in blaue Gurte gepackt, zwischen den Baumwipfeln an einem daumendicken Drahtseil. Die Sonne glitzerte heiß durch die Blätter, reflektierte sich funkelnd an Karabinerhaken und Schnallen. »Los geht’s!« kreischte er, sein Gesicht strahlend vor feuriger Erwartung. Dann trat er über die Holzkante, der fleckige Waldboden gute zehn Meter unter ihm. Sein Gewicht zog ihn ruckartig nach unten, die Rollen, die oberhalb des Drahtseils befestigt waren, sausten surrend los, mit ihnen der jauchzende Elias. Sechzig Meter berauschende Fahrt zwischen Ästen und Blättern vorbei, eingehüllt in den Geruch von Harz, kein Boden unter den Füßen.
Die Bilder, die keine acht Wochen zurücklagen, trieben ihr salzige Tränen in die Augen. Vielleicht würde er nie wieder klettern können. Vielleicht würde er sogar nie wieder laufen können. Querschnittslähmung. Niemand wusste es. Vielleicht würde er sogar die nächsten Stunden nicht überleben.
Natalja hielt am Straßenrand an, da Tränen ihr die Sicht verschleierten und die Vorstellung seines Todes ihr die Luft abschnürte. Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, wischte grob die Tränen beiseite und schnäuzte sich. Gleichzeitig sah sie sich nach dem weiteren Weg um.
Wenige Meter vor ihr mündete die Straße in eine Kreuzung. Dort würde sie nach links Richtung Eriks Büro abbiegen und dann –
Die
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