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Blut und Harz

Blut und Harz

Titel: Blut und Harz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Leibig
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Verwüstung hinter sich her. Mittlerweile konnte Elias ein gehetztes Keuchen vernehmen. Vielleicht von einem monströsen Keiler, der dahinjagte. Hunderte Kilo reiner Muskeln, ein Berg von Reißern und Hauern. Blutig glänzend, fleckiges Fell und stahlharte Glieder.
    Erkenne , raunte die Stimme erneut.
    »Was soll ich erkennen?« rief Elias in den Himmel. »Wer bist du?«
    Seine Worte wurden von einem harten Schnauben unter ihm quittiert, das Brechen von Maisstauden wurde lauter.
    »Was ist das unter mir? Es wird mich töten!« kreischte er.
    Jammer nicht. Erkenne.
    Die Stimme klang tief und erdig. Elias sah sich um, weil er endlich die Quelle ausfindig machen wollte. Doch er sah niemanden.
    Stattdessen bemerkte er dünne Plastikschläuche in seinen Armen, stechende Nadeln, Verbände. Er erschrak. Waren sie schon immer da gewesen? Vorhin schon, als er seinen Flug stabilisiert hatte? Als er mit den Armen ruderte? Sollte es nicht anders sein? Er versuchte, sich zu erinnern. Am Boden unter ihm blitzte weißer Lack durch die grünen Blätter, er hörte ein surrendes Motorengeräusch. Dann wieder das Keuchen und Stampfen.
    Elias schrie.
    Erkenne! Kreischte die Stimme. Vergiss es. Verdränge es. Es tötet dich. Erkenne!
    Der Boden kam näher, schneller nun als zuvor. Er sank unaufhaltsam dem Mais entgegen.
    Erkenne!
    »Ich kann nicht! Ich weiß ja nicht einmal, was!« wimmerte er. Tränen perlten über seine Wangen. »Es wird mich töten …«
    Jedes Erkennen beginnt mit einem Gedanken. Sieh voraus! Nicht nach unten!
    »Ich sterbe!«
    SIEH VORAUS!
    Elias sah unter Tränen nach vorne, in die Richtung, in die er flog. Die Linie am Horizont war näher gerückt. Ein dunkelgrünes Band aus fleckigem Grün und waberndem Schwarz. Der Strich war unregelmäßig, mal dicker, mal dünner, gezackt und gebeult. Er wogte ebenfalls im Wind.
    Das Keuchen wurde lauter. Er sah hinab. Das Maisfeld unter ihm rauschte an seinen Zehenspitzen vorbei. Gerade einmal ein guter Meter trennte ihn noch von den obersten Blätterspitzen. Elias schluckte seine Angst hinunter, wendete den Blick wieder nach vorne. Erkennen sollte er, hatte die Stimme gefordert. Doch was? Er kniff die feuchten Augen zusammen, blinzelte den Rest der Tränenflüssigkeit hinweg und konzentrierte sich.
    Dann erkannte er.
    Die dunkelgrüne Linie war die Front eines Waldes, erstreckte sich endlos zu beiden Seiten. Gewaltige Eichen, Eschen, Erlen, darunter Tannen, Nadelgehölze, Ahorn, Birken und Lerchen. Ein bunter Mischwald, ein Farbenspiel der Natur.
    Ein alter Wald -
    - und er wartete auf ihn.
    Elias zwinkerte schaudernd. Als er die Augenlider wieder öffnete, war der Forst heran, erhob sich drohend und unbeugsam vor ihm, keine hundert Meter mehr entfernt.
    Er sah jede Kleinigkeit in der endlosen Baumgrenze: Knorrige Äste, wuchtige Wurzeln, vermodernde Blätter, braun und grau, durchsetzt mit saftigen Pilzen am Waldboden. Fleckige Steine mit Moos überzogen, rissige Borke, weiße Rinde, Zweige und Blätter. Rund, eckig, spitzige Nadeln, stechend und harzig. Goldene Tropfen, Grün und Braun.
    Ein grollendes Knurren erschütterte den Boden, ließ das Maisfeld erzittern. Das Etwas war keine zwei Meter hinter ihm. Es war dunkel und tödlich. Elias Füße streiften einzelne Maisstauden. Es wummerte, dazu das ohrenbetäubende Stampfen von zeitlosen Klauen und Hauern.
    Eichenlaub umhüllte ihn plötzlich, streichelte seine Wangen, tauchte ihn in ein Meer aus Blättern, als er die Baumgrenze wie ein Geschoss passierte. Zweige zerkratzten seine Haut, Nadeln stachen. Düsternis umhüllte ihn, dazu eine durchdringende Stille. Im matten Licht erkannte er massive Stämme, die sich in den Himmel streckten. Verzweigte Baumkronen spannten sich einem grünen Firmament gleich über ihn, verwuchsen miteinander zu einem endlosen Geflecht und sperrten das Sonnenlicht aus.
    Dann schlug Elias unvermittelt auf dem Waldboden auf.
    Das Gemisch aus Humus, Blättern und Nadeln, das die knochenharten Wurzeln bedeckte, federte seinen halsbrecherischen Sturz ab, dämpfte die Schmerzen. Er überschlug sich, purzelte durch die herbstlichen Überreste der Natur, dann blieb er schwer atmend am Boden zwischen weichen Tannennadeln und rot weiß gefleckten Fliegenpilzen liegen. Elias hob stöhnend den Kopf, spähte in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Etwas Riesiges tobte jenseits der Baumgrenze. Er sah tanzende Schatten, hin und her fetzende Gliedmaßen, Reißer und Stoßzähne. Doch die Bäume bildeten ein

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