Blut und rote Seide
würde erklären können.
Doch was den Fallbericht betraf, so hatte er eine Idee. Warum nicht Yu die Lorbeeren ernten lassen? Schließlich war er ein verläßlicher Partner, der trotz aller unbeantworteten Fragen treu hinter ihm stand.
»Hätte er denn eine Alternative gehabt?« gab Chen zu bedenken. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Nun ist es an Ihnen, den Fall abzuschließen.«
»An mir?«
»Aber ja. Sie waren es, der die Details zu Jasmine recherchiert und Jias Namen in der Kundenliste des Joy Gate entdeckt hat. Sie haben mich auf Tians ungewöhnliche Pechsträhne aufmerksam gemacht und die Sache mit dem Mao-Propagandatrupp ausgegraben. Ganz zu schweigen von Peiqins Betrag zu den Ermittlungen. Ihre Überlegungen zur symbolischen Bedeutung des qipao haben mir viel geholfen.«
»Aber das stimmt nicht, Chef. Mag sein, daß ich manches herausgefunden habe, aber es hat mich nicht weitergebracht. Und mit Tians Vergangenheit habe ich mich auf Ihre Veranlassung hin beschäftigt …«
»Wir brauchen das nicht gegeneinander aufzurechnen. Sie würden mir offengestanden einen Gefallen tun. Ich wüßte sonst nicht, wie ich es den anderen erklären sollte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Inspektor Liao zum Beispiel wird ganz schön sauer sein, wenn er erfährt, daß ich hinter seinem Rücken an dem Fall gearbeitet und das Präsidium an der Nase herumgeführt habe. Dasselbe gilt für Parteisekretär Li, der mir in seiner Paranoia politische Intrigen unterstellen wird.«
»Aber Tatsache ist doch«, beharrte Yu, »daß Sie Shanghais ersten Serienmörder überführt haben.«
»Ich habe Jia mein Wort gegeben. Es gibt Dinge in diesem Fall, über die ich nicht sprechen will. Sie betreffen nicht nur ihn. Jetzt, wo er tot ist und seinen Teil der Abmachung eingehalten hat, bin ich zu Stillschweigen verpflichtet. Auf Ihr Verständnis kann ich rechnen, Yu, nicht aber auf das der anderen.«
Chen bezweifelte, daß Yu ihn tatsächlich verstand. Aber Yu würde nicht weiterbohren, zumindest nicht allzu tief. Sie waren nicht nur Partner, sondern Freunde.
»Aber was soll ich denen erzählen – Rache für die Kulturrevolution? Das geht doch nicht.«
»Nun, er hat seine Verbrechen in einem Anfall zeitweiliger Umnachtung begangen. Anschließend war er jedesmal von Reue erfüllt. Deshalb hat er die Schecks für die Familien der Opfer ausgefüllt.«
»Aber warum hat er sie Ihnen gegeben?«
»Der Zufall wollte es, daß ich auch mit dem Wohnungsbauskandal befaßt war und mich in diesem Zusammenhang mit Jia getroffen habe. Direktor Zhong vom Komitee für Rechtsreform kann das bestätigen. Noch gestern abend während meines Treffens mit Jia hat er mich wegen des heutigen Prozesses angerufen.«
»Und Sie glauben, die anderen werden das akzeptieren?«
»Das weiß ich nicht, aber ich gehe davon aus, daß die Regierung kaum an einem Szenario interessiert sein dürfte, das Sie soeben als ›Rache wegen der Kulturrevolution‹ bezeichnet haben. Das wird sie von weiteren Nachforschungen abhalten. Je weniger darüber geredet wird, desto besser für alle Beteiligten. So könnte das laufen.« Und nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Möglicherweise will die Regierung die Identität des Serienmörders gar nicht bekanntgeben. Er wurde getötet. Fertig.«
»Werden sie ihn denn nicht bestrafen wollen? Als Abschreckung. Schließlich hat er versucht, der Regierung Ärger zu machen.«
»Aber nicht unter diesen Umständen und nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Das könnte auf die Behörden zurückfallen. Natürlich ist das nur eine Vermutung …«
Das Telefon klingelte ungewöhnlich laut in dem leeren Amtszimmer. Es war Professor Bian, der an diesem Morgen eine Verabredung mit Chen gehabt hatte, doch sein Student war nicht erschienen.
»Ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind, aber Ihre Seminararbeit interessiert mich. Ich wollte fragen, wie Sie vorankommen.«
»Auf jeden Fall werde ich rechtzeitig abgeben«, versicherte Chen. »Momentan schlage ich mich noch mit dem Schluß herum.«
»Bei Seminararbeiten ist es nicht einfach, zu einer verallgemeinernden Schlußfolgerung zu gelangen«, sagte Bian. »Aber Ihr Thema gibt einiges her. Wenn es Ihnen gelingt, eine signifikante Gemeinsamkeit für mehrere Geschichten herauszuarbeiten, könnten Sie sogar eine Magisterarbeit daraus machen.«
Chen glaubte nicht, daß er dazu in der Lage wäre. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Mittlerweile waren ihm Zweifel an seinen literarischen Studien
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