Blut und rote Seide
offenbar nichts unter dem enganliegenden Kleid.
Er berührte den Knöchel der jungen Frau. Kalt. Kein Puls. Dennoch ließen ihre rosalackierten Zehennägel an Blütenblätter denken. Wie lange sie wohl schon leblos hier lag? Der qipao entsprach keineswegs der neuesten Mode und wirkte irgendwie fehl am Platz. Er hatte noch nie jemanden das Kleid so tragen gesehen – ohne Unterwäsche und Schuhe.
Er spuckte auf den Boden, um das Unheil abzuwehren.
Wer legte eine Leiche in aller Frühe an einen solchen Ort? Das konnte nur ein Sexmörder getan haben.
Er überlegte, daß er die Polizei verständigen sollte, doch dazu war es noch zu früh. Außerdem war kein öffentlicher Fernsprecher in der Nähe. Als er sich umsah, bemerkte er ein Licht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es kam vom Shanghaier Konservatorium. Laut schreiend rannte er darauf zu:
»Hilfe! Mord! Eine Frau im roten qipao !«
1
DAS KLINGELN DES Telefons riß Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium früh am Morgen aus seinen Träumen.
Er rieb sich die Augen und warf einen Blick auf den Wecker, während er zum Hörer griff: halb sieben. Der Brief an eine Freundin in Beijing hatte ihn bis spät in der Nacht wach gehalten; er hatte die Zeilen eines Tang-Dichters zitiert, um auszudrücken, was er selbst nur schwer in Worte fassen konnte. Danach hatte ihn ein Traum in die Tang-Zeit entführt: Herzlose Weiden standen im hellgrünen Nebel an verlassenen Ufern.
»Hallo. Hier ist Zhong Baoguo vom Shanghaier Komitee für Rechtsreform. Spreche ich mit Genosse Oberinspektor Chen?«
Chen fuhr hoch. Dieses Komitee war eine dem Shanghaier Volkskongreß unterstellte, neue Institution, die ihm gegenüber keine unmittelbare Weisungsbefugnis besaß. Zhong, von höherem Parteirang als er selbst, hatte ihn nie zuvor kontaktiert, geschweige denn zu Hause angerufen. Die Fragmente seines von Weiden beschatteten Traums lösten sich in nichts auf.
Vermutlich handelte es sich wieder um einen dieser »politisch brisanten« Fälle, die man nicht im Präsidium diskutiert wissen wollte. Chen spürte einen bitteren Geschmack im Mund.
»Haben Sie schon von dem Skandal um das Wohnungsbauprojekt Block Neun West gehört?«
»Block Neun West? Ja. Ein Projekt des Bauunternehmers Peng Liangxin, beste Innenstadtlage. Ich habe davon gelesen.«
In Chinas derzeitiger Reformphase versprachen Immobiliengeschäfte die größten Gewinnspannen. Früher, als Grund und Boden noch dem Staat gehört hatten, waren die Leute auf die Zuteilung von Wohnraum angewiesen gewesen. Auch Chen war seine Wohnung von der Dienststelle zugeteilt worden. Anfang der neunziger Jahre hatte die Regierung dann begonnen, Grundstücke an aufstrebende Unternehmer zu verkaufen. Peng, den man auch den größten Geldsack Shanghais nannte, war einer der ersten und erfolgreichsten gewesen. Da aber die Partei weiterhin für die Grundstückspreise und Zuteilungen verantwortlich war, blühte die Korruption. Dank seiner guten Beziehungen hatte Peng den Zuschlag für das Block-Neun-West-Projekt erhalten. Die alte Bebauung wurde abgerissen, um Platz für Neues zu schaffen, und Peng setzte alle bisherigen Bewohner auf die Straße. Es dauerte jedoch nicht lange, da sprach man von »schwarzen Löchern« in den Geschäftsbüchern, und ein öffentlicher Skandal drohte.
Doch was konnte Chen da tun? In ein Projekt von solchem Ausmaß war sicher eine ganze Reihe von Beamten involviert. Die Sache konnte sich zu einem schwerwiegenden Fall mit fatalen politischen Konsequenzen entwickeln. Vermutlich war man um Schadensbegrenzung bemüht.
»Wir sind der Ansicht, daß Sie sich den Fall einmal ansehen sollten, besonders den Rechtsanwalt, der die ehemaligen Bewohner vertritt, ein gewisser Jia Ming.«
»Jia Ming?« Jetzt war Chen erst recht verwirrt. Er kannte zwar die Einzelheiten dieses Korruptionsfalls nicht, aber Jia war ihm als erfolgreicher Anwalt bekannt. Warum war er plötzlich ins Visier der Ermittlungen geraten? »Handelt es sich um den Rechtsanwalt, der den Dissidentenschriftsteller Hu Ping verteidigt hat?«
»Genau den.«
»Es tut mir leid, Direktor Zhong, aber ich fürchte, Ihnen da nicht helfen zu können.« Statt eines klaren Neins hatte er eine Ausrede parat. »Ich habe mich soeben für ein spezielles Magisterprogramm in klassischer chinesischer Literatur an der Universität Shanghai eingeschrieben. Für die ersten paar Wochen ist eine intensive Studienphase vorgesehen. Da wird mir keine Zeit für
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