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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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aufzusuchen. Also mußten Sie ausharren, wie damals im dunklen Hinterzimmer des Nachbarschaftskomitees, nur daß Ihnen seinerzeit die Hoffnung auf ein Wiedersehen half.
    Jasmines geplante Abreise hat dann schließlich zum Zusammenbruch geführt. Panik ließ Sie zum Mörder werden. In dem Moment, wo Sie Hand an Jasmine legten, brach das durch jahrelange Repression Angestaute aus Ihnen heraus. Das weitere brauche ich nicht noch einmal zu erzählen.
    Ich bin heute abend nicht hergekommen, um über Sie zu urteilen, Herr Jia. Aber als Polizist stehe ich in der Pflicht. Deshalb hoffe ich, daß wir zu einer anderen Regelung gelangen können …«
    »Eine andere Regelung? Wie könnte die aussehen für einen Menschen, der, wie Sie sagten, kein Licht am Ende des Tunnels sieht?« Jia sprach langsam und mit Bedacht. »Was wollen Sie?«
    »Als Polizist will ich, daß diese Mordserie an unschuldigen Opfern ein Ende hat.«
    »Nun, wenn der Prozeß morgen wie geplant stattfindet, wenn nichts dazwischenkommt …«
    »Das ist auch meine Hoffnung. Es wird nichts dazwischenkommen«, sagte Chen und warf einen Blick auf seine Uhr. »Keine außergewöhnlichen Vorfalle.«
    »Jetzt, wo Freitag ist«, sagte Jia, als hätte er die Gedanken seines Gegenübers gelesen, »brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber die Aufnahmen müssen vernichtet werden.«
    »Das verspreche ich. Und die Negative dazu.«
    »Werden Sie Ihr Buch schreiben, Oberinspektor Chen?«
    »Nein, nur wenn man mich dazu zwingt. Zumindest nicht das Sachbuch.«
    »Aber es gibt bislang nicht ein einziges Sachbuch über die Kulturrevolution.«
    »Ich weiß,« erwiderte Chen. »Und das ist eine Schande.«
    »Ich habe noch eine persönliche Bitte an Sie.«
    »Ja?«
    »Quittieren Sie nicht den Dienst. Das mag aus meinem Mund wie Herablassung klingen, aber Sie sind ein ungewöhnlicher Polizist. Sie sehen die Dinge nicht einfach nur schwarz und weiß. Es gibt nur wenige Beamte mit so viel Einfühlungsvermögen.«
    »Danke, daß Sie mir das gesagt haben, Herr Jia.«
    »Und ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir die Geschichte erzählt haben, Oberinspektor Chen. Jetzt muß ich nach Hause, um mich auf den morgigen Prozeß vorzubereiten – ach nein, den heutigen.« Jia erhob sich. »Nach der Verhandlung können Sie vorgehen, wie Sie wollen. Ich werde Ihnen so weit wie möglich entgegenkommen.«
    Beim Hinausgehen fanden sie Weiße Wolke zusammengerollt auf dem Ledersofa. Sie mußte auf ihn gewartet haben und eingeschlafen sein. Ihr qipao war zerknittert, die Füße nackt; ganz offensichtlich trug sie nichts unter dem Kleid.
    Jia wich zurück. Um diese geisterhafte Stunde schwirrten Phantasien umher wie Fledermäuse, und ein solcher Anblick jagte ihm Angst ein.

31
    DIE VERHANDLUNG IN Sachen Block Neun West schien am Freitag morgen planmäßig über die Bühne zu gehen.
    Sie wurde im Gerichtshof des Jing’an-Distrikts abgehalten, in dem das Wohnungsbauprojekt lag. In den zwanziger Jahren war das Gebäude eine katholische Mädchenschule gewesen und Anfang der Sechziger, wie Chen wußte, zum Kinderpalast umfunktioniert worden. Nur zwei oder drei bunte Glasfenster im Gerichtssaal erinnerten heutige Besucher noch an seine frühere Bestimmung.
    Chen hatte soeben unter der Hand erfahren, daß Peng zu drei Jahren verurteilt werden sollte. Eine populistische Geste zur Beruhigung der Bevölkerung in Zeiten, in denen die Kluft zwischen arm und reich wuchs wie bei einem beginnenden Erdbeben. Die Regierung hatte ein klares Interesse daran, den Fall rasch und ohne Komplikationen abzuschließen, deshalb mußte Peng für seinen Mißbrauch staatlicher Gelder und sein grob fahrlässiges Geschäftsgebaren bestraft werden.
    Ein solcher Prozeßausgang wäre für weite Kreise der Öffentlichkeit verständlich und akzeptabel. Zugleich blieben die korrupten Parteikader, die hinter Peng standen, unangetastet, und die Regierung konnte medienwirksam Solidarität mit dem einfachen Volk demonstrieren. Da staatliche Gelder für die Umsiedelung und Entschädigung der ursprünglichen Mieter bereitgestellt waren, würden auch die Kläger mit dem Urteil zufrieden sein. Einige könnten vielleicht sogar im Viertel wohnen bleiben. Und was Peng betraf, so würde auch er nichts gegen die drei Jahre einzuwenden haben. Bei seinen Beziehungen befände er sich ohnehin nach ein paar Monaten wieder auf freiem Fuß.
    Soweit Chen wußte, war es auch zwischen Shanghai und Beijing beziehungsweise Jia und der Stadtregierung zu

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