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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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hatte. Die revolutionären Massen sahen darin eine ›symbolische Hinrichtung des Vorsitzenden Mao‹. Nein, nein, Ihre Mutter wußte es besser. Sie spürte, daß Tian zu allem fähig war.
    Sie hingegen haben den Vorfall immer nur aus Ihrer Perspektive gesehen, niemals aus der von Mei. Der Anblick Ihrer unter einem fremden Mann sich windenden Mutter hat Sie völlig verstört. Sie waren nicht mehr fähig, klar zu denken. So wurden die Serienmorde schließlich zum einzigen Ventil für Liebe und Haß gleichermaßen …«
    Wieder wurden sie vom schrillen Läuten des Mobiltelefons unterbrochen. Diesmal war es Hauptwachtmeister Yu.
    »Tut mir leid, ich muß den Anruf annehmen«, sagte Chen und trat ans Fenster. Der Garten lag jetzt in völliger Dunkelheit.
    »Sein Wagen ist sauber, Chef«, teilte Yu mit. »Ich hab mir die Parksituation angesehen. Er konnte tatsächlich ungesehen zum Seiteneingang gelangen. Die Vordertür wird von einer Bambushecke abgeschirmt. Ich bin mit dem Schlüssel reingegangen.«
    »Irgendwas im Büro gefunden?«
    »Das ist eine ziemlich große Wohnung. Außer dem eigentlichen Büro gibt es ein Empfangszimmer, eine Bibliothek und ein kleines Schlafzimmer mit Bad.«
    »Überrascht mich nicht. Xia sagte, sie habe dort mehrfach übernachtet.«
    »Er könnte also Jasmines Leiche dort gewaschen haben.«
    »Ja.«
    »Ich habe allerdings keine Blutspuren oder dergleichen gefunden. Der Teppich muß erst kürzlich gesäubert worden sein. Roch nach Reinigungsmittel; ein Dampfreiniger ist auch da. Das ist immerhin ein Hinweis, denn in solchen Nobelkanzleien kommt doch sonst eine Reinigungsfirma. Wieso sollte ein Rechtsanwalt eigenhändig putzen?«
    »Gute Frage.«
    »Und noch etwas ist mir aufgefallen, Chef. Die Farbe des Teppichs. Er paßt zu der Faser, die am Fuß des dritten Opfers klebte.«
    »Ja, er hat sie dort hingebracht, ohne beobachtet zu werden, hat aber die Faser an ihrem Fuß übersehen.«
    »Das endgültige Resultat aus dem Labor bekommen wir leider erst morgen früh. Außerdem ist ein solcher Faserbefund kein stichhaltiger Beweis in einem Mordfall.«
    »Immerhin reicht er aus, um ihn ein paar Tage lang festzusetzen und eine offizielle Durchsuchung anzuordnen. In dieser Zeit kann er nichts anstellen.«
    »Warum greifen wir ihn uns nicht gleich heute nacht?«
    »Nichts überstürzen. Warten Sie auf meinen Anruf.«
    Als Chen wieder an den Tisch zurückkehrte, trieb die Schildkröte bewegungslos mit dem Bauch noch oben in der Suppe, ein gespenstisch weißer Bauch.
    »Für einen Polizisten«, bemerkte Jia, »haben Sie eine erstaunlich einfühlsame Geschichte geschrieben.«
    Chen fragte sich, ob das ein sarkastischer Kommentar war oder Zeichen einer subtilen Veränderung in Jias Verhalten.
    »Gute Literatur lebt von einfühlsamen Schilderungen«, bemerkte Chen und sah Jia direkt ins Gesicht. »Nach all den Grausamkeiten, denen Sie während der Kulturrevolution ausgesetzt waren, glauben Sie vielleicht, daß niemand Sie versteht. Sie sind überzeugt, einer inneren Programmierung folgend, so handeln zu müssen. Aber glauben Sie mir, Jia, ich habe versucht, Sie zu verstehen. Als ich von Ihren Erlebnissen erfuhr, dachte ich, daß mich nur ein Quentchen Glück vor ähnlichem bewahrt hat.
    Unwillkürlich habe ich mich mit dem Jungen auf dem Bild identifiziert. Wie glücklich war er an der Hand seiner Mutter und wie wenig vorbereitet auf die Katastrophe, die sich damals zusammenbraute. Ich habe versucht, aus Ihrer Perspektive zu denken, und meinte, darüber den Verstand zu verlieren.
    In den Tagen nach ihrem Tod müssen Sie jedesmal, wenn einer der Nachbarn Sie ansah, gedacht haben, daß er dabei Ihre nackte Mutter vor Augen hatte, wie sie Ihnen nachrannte. Daraufhin zogen Sie fort und haben versucht, alles hinter sich zu lassen. Später haben Sie dann auch Ihren Namen geändert. Wie in dem Gedicht von Su Dongpo versuchten Sie, nicht daran zu denken, vergaßen aber nie.
    Polizist hin oder her, ich kann Ihre Selbstjustiz nicht verdammen … zumindest den Anfang, als Sie Tian gnadenlose Schicksalsschläge zufügten. Ich weiß, daß Rache blind macht. Auch ich war außer mir, als ich vom Tod einer jungen Kollegin erfuhr, und habe im Jing’an-Tempel geschworen, sie zu rächen.
    Doch dann ist Ihnen die Kontrolle entglitten. Sie entdeckten Ihr sexuelles Problem, dessen Ursprung Ihnen klar gewesen sein muß. Als bekannter Anwalt für politisch kontraverse Fälle konnten Sie es nicht riskieren, einen Psychiater

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