Blut und rote Seide
einer Einigung gekommen. Insgesamt schien der Anwalt damit ein optimales Ergebnis für seine Mandanten erzielt zu haben.
Der Prozeß würde reine Formsache sein.
Einige Bewohner des Block Neun West waren im Gerichtssaal erschienen, ebenso zahlreiche Journalisten aus dem In- und Ausland, die eine Sondergenehmigung der Stadtregierung hatten einholen müssen, um der Verhandlung beiwohnen zu können.
Jia saß, noch immer im schwarzen Anzug, bei seinen Mandanten in der ersten Reihe; im hellen Licht des Gerichtssaals wirkte er blaß und angespannt.
Chen nahm in einer der hinteren Reihen Platz; er rieb sich die Schläfen, hinter denen es klopfte wie bei einer Akupunktursitzung. Ihm war nach dem bis in die frühen Morgenstunden dauernden Abendessen im Alten Herrenhaus nicht einmal Zeit zum Umziehen geblieben. Aber egal, er hoffte, daß ihn hinter seinen bernsteinfarbenen Brillengläsern niemand erkennen würde.
Neben ihm saß Yu, ebenfalls in Zivil. Auch er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Nachdem das Ergebnis der Faserprobe eingegangen war, hatte er alle nötigen Vorbereitungen für den Einsatz getroffen, aber Chen hieß ihn warten.
Der Oberinspektor hatte angeordnet, daß auch die Beamten innerhalb und außerhalb des Gerichtsgebäudes Zivil trugen, und darauf bestanden, selbst das Signal zum Einsatz zu geben. Yu hatte seinen Kollegen nicht gesagt, daß es hier um einen anderen Fall ging – um die qipao -Morde.
Chen seinerseits wußte nicht, wieviel er Yu erzählen sollte, der neben ihm saß. Er beschloß, erst einmal den Ausgang des Prozesses abzuwarten. Aber selbst dann wäre ein Eingreifen fragwürdig. Es würde zu viel Aufsehen erregen und wilde Spekulationen über etwaige politische Manipulationen hervorrufen, die keineswegs im Interesse der Parteiführung lagen.
Er fragte sich, ob es klug gewesen war, überhaupt hierherzukommen. Trotz der entsetzlichen Verbrechen konnte er nicht umhin, die Dinge aus Jias Sicht zu betrachten. Auch Gerechtigkeit war eine Frage der Perspektive. Auf keinen Fall durften weitere unschuldige Opfer zu Schaden kommen.
Gang Hua, Pengs Strafverteidiger, stand auf, um sein Schlußplädoyer zu halten.
Aufgrund von Pengs Kooperationsbereitschaft, seiner Rückgabe der hinterzogenen Staatsgelder und der Tatsache; daß er nichts von den Unregelmäßigkeiten seiner Angestellten gewußt hatte, bat er um Nachsicht mit dem Beklagten und wies dabei auf die besonderen »historischen Umstände« hin.
»Es stimmt, daß Peng das Grundstück günstig bekommen hat und plante, die Apartments mit Gewinn zu verkaufen. Das trifft aber nicht nur auf dieses Bauvorhaben zu, in ganz Shanghai sind die Bodenpreise sprunghaft gestiegen. Und was die Bestimmungen zur Landnutzung angeht, so waren diese zu Baubeginn nicht ausreichend spezifiziert, dasselbe gilt für die Entschädigung der Bewohner – lediglich Unter- und Obergrenze wurden festgelegt. Um den Bau rechtzeitig fertigstellen zu können, beauftragte er eine Umsiedelungsfirma, deren Angestellte ihrem Auftrag – ohne Wissen Pengs – ein wenig zu eilfertig nachkamen.
Zugegeben, einigen Bewohnern von Block Neun West sind dadurch Unannehmlichkeiten entstanden, ja sogar Verletzungen zugefügt worden, doch auf lange Sicht dient dieses Wohnungsbauprojekt den Interessen des Volkes. Sollen die Menschen etwa weiterhin auf so engem Raum zusammenleben wie in der Fernsehserie Zweiundsiebzig Familien unter einem Dach ? In einer nie dagewesenen Reformanstrengung hat China enorme Fortschritte gemacht. Daß Peng für seine Fehler zur Verantwortung gezogen werden muß, steht außer Frage, aber wir müssen auch die historischen Umstände in Betracht ziehen. Von höherer Warte aus gesehen, dienen Pengs geschäftliche Aktivitäten durchaus dem Wohl unserer Stadt. Wer in einem Jahr den Block Neun West aufsucht, wird dort Reihen neuer Mietshäuser vorfinden.«
Ein geschicktes Plädoyer, das Peng als Geschäftsmann erscheinen ließ, der zwar Fehler gemacht, aber in bester Absicht und unter besonderen »historischen Umständen« gehandelt hatte. Dabei blieb tunlichst unerwähnt, daß Peng diese illegalen Geschäftspraktiken natürlich nur aufgrund seiner guten Kontakte zu hohen Parteikadern hatte durchziehen können.
Die Reaktion der Zuschauer war geteilt. Im Saal wurde getuschelt. Nicht alle ehemaligen Bewohner waren ausschließlich auf finanzielle Entschädigung aus.
Nun stand Jia auf und ging nach vorne, um sein Abschlußplädoyer zu halten.
Als er in den
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