Blut und Sünde
etwas. Jeder im Theater hörte das laute Kratzen. Es war einfach zu laut, um echt zu sein.
Man wusste, dass es das Kratzen der Gefangenen im Sarg war, die es nicht mehr länger aushalten konnte und endlich herauswollte. Aus den Lautsprechern drangen auch noch andere Geräusche. Da stöhnte und knirschte jemand. Sogar ein leises Lachen war zu vernehmen. Es deutete an, dass die lebende Leiche sich auf dem Weg befand, den sie unbedingt gehen musste.
Sie wollte raus, und sie kam raus! Nicht sehr schnell, sondern genau getimt. Alles musste hier einfach passen. Von innen her wurde der Deckel in die Höhe gedrückt. Wieder von den knarrenden und knirschenden Lauten begleitet. Ober- und Unterteil der Totenkiste schabten übereinander, und der Sargdeckel drehte sich noch in der Bewegung.
Es war wirklich faszinierend gemacht. Das Kichern der ›Toten‹ hörten wir ebenfalls, und der Deckel bewegte sich auf dem Unterteil so weiter, dass er schließlich in seiner Breite darauf lag. Rechts von ihm, zum Oberteil hin, war der geschaffene Raum groß genug zum Aussteigen für die Person.
Sie kam. Natürlich machte sie es spannend. Es war alles perfekt einstudiert. Sie kroch hervor und zeigte zunächst ihre Hände, die bleich und mit langen Nägeln versehen aus dem unteren Teil erschienen. Sie umfassten die Kante, um den nötigen Halt zu geben, damit sich die Gestalt vollends aus der Totenkiste schieben konnte.
Sie stand auf. Die Geliebte des Edelmannes kam, um als lebende Leiche mit ihrem Freund zusammen sein zu können. So schrieb es die Dramaturgie vor.
Wieder hörten wir Musik. Diesmal leise. Sie hielt sich im Hintergrund. Mit ihren dumpfen Klängen allerdings passte sie haargenau. Auch die Untote bewegte sich nach der Musik. Sie drückte sich höher, sie stand jetzt und hob ein Bein an, um über den Rand der Totenkiste zu steigen, damit sie davor stehen bleiben konnte.
Sie war zu sehen, und dieses Kostüm ließ wohl kaum einen Zuschauer kalt. Sehr hell, sehr weiß, was wohl ein Leichenhemd andeuten sollte, umschwang es ihren Körper, der trotz der Kleidung mehr ausals angezogen wirkte. Jeder sah die Korsage, die hellen Strümpfe, die von Strapsen gehalten wurden.
Es gab nicht viel, was der Körper verdeckte oder verbarg. Der größte Teil der Korsage war durchsichtig. Es konnte auch am Licht liegen, das sich exakt auf diese Gestalt konzentrierte.
Bleich geschminkt. Etwas Blut klebte trotzdem an ihrer Kleidung und auch im Gesicht. Alles wirkte sehr echt und auch schaurig. Aber wir mussten auch zugeben, dass wir es hier mit einer ›schönen‹ Leiche zu tun hatten.
Sie ging einmal um den leeren Sarg herum, bis sie dann davor stehen blieb. Er befand sich jetzt hinter ihr. Die Untote selbst schaute in das Publikum hinein.
Ich musste zugeben, dass die Schauspielerin ihre Sache sehr gut rüberbrachte. Da passte jede Bewegung, denn ich kannte mich bei echten lebenden Leichen aus. Wir hatten es oft genug mit diesen verdammten Zombies zu tun bekommen und wussten deshalb auch, wie sie sich bewegten, um sich in ihrer neuen Lage zurechtzufinden.
Noch immer blieb sie stehen. Der Blick ins Publikum. Die Bewegung des Kopfes. Mal nach links, dann wieder nach rechts. Danach begann alles von vorn. Sehr langsam wirkte es. Wie einstudiert. Sie schien sich jede Person anschauen zu wollen.
Aus den hinteren Reihen ertönten Pfiffe. Eine Männerstimme rief: »Verdammt, mit so einer schönen Leiche könnte ich mal…« Andere lachten.
Die Musik steigerte sich. Dumpfer Trommelklang, der sich allerdings noch im Hintergrund hielt, und in den hinein der überlaute Schrei gellte.
Die lebende Leiche hatte ihn aufgestoßen und gleichzeitig ihr Maul weit aufgerissen. Da sie im Kegel des Scheinwerferlichts stand, war sie überdeutlich zu sehen.
Der Mund, der weit offen stand, so dass auch die Zahnreihen hervorschimmerten. Zähne, die…
Moment mal, was war das? Im Stück war von einem weiblichen Zombie die Rede gewesen. Das traf bei Florence nicht zu. Sie war kein Zombie. Sie war ein Vampir! Und sie sah verdammt echt aus.
Da fiel der Vorhang zur Pause!
Für eine Weile blieb es ruhig. Nichts hörten wir. Die Zuschauer mussten sich erst erholen. Dann jedoch brandete der Beifall auf, die Pfiffe, das Trampeln. All dies vermischte sich zu einem einzigen Orkan, der der Bühne entgegenschwappte, deren Vorhang allerdings geschlossen war und es auch blieb. Keiner der Schauspieler trat vor ihn, um den Beifall entgegenzunehmen. Das würde erst am Ende
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