Blut Von Deinem Blute
gestanden. Die Tür war nur angelehnt. Dahinter gähnte schwarz die Diele. Wie spät war es eigentlich, dass es schon so dunkel war? Wie lange war Cora schon weg? Oder hatte sie gar nicht vorgehabt, zu diesem Meeting zu gehen? War sie ... Laura stürzte zurück zu dem Glas, das noch immer neben dem Sessel stand, und hielt es gegen das Licht der Lampe. Und tatsächlich! Da war etwas!
Also hat sie dich schon wieder betäuben wollen. Sie hat dir ein Schlafmittel gegeben, damit sie ... Was tun kann?
Laura kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn in der Dunkelheit jenseits der Tür erklang just in diesem Augenblick ein Geräusch. Das charakteristische Geräusch eines sich drehenden Schlüssels im Schloss.
4
»Wenn es nicht Mia gewesen ist«, hatte Kevin gesagt, »dann war es am Ende vielleicht doch Laura.«
Tja, genau so sieht es leider aus, dachte Leon, als sie Seite an Seite das Hotel betraten. Und doch war ihm die Schlussfolgerung seines Freundes irgendwie zu plakativ, zu simpel. Eines der Mädchen. Die eine oder die andere. Schwarz oder weiß. Aber das Leben war viel zu bunt, als dass es sich auf eine derart einfache Formel bringen ließ!
Er trat an die Rezeption und dachte an den frustriertenGesichtsausdruck von Lionel Archer, dem pensionierten Kriminalbeamten.
»Niemand zu Hause«, murrte Kevin mit Blick auf den verwaisten Stuhl hinter dem Empfangstresen.
»Die ist eine rauchen«, hörten sie eine Stimme hinter sich sagen.
Leon drehte sich um und entdeckte Klaus Albrecht in einem der Clubsessel, die vor dem Durchgang zum Frühstücksraum standen.
»Ist vor zehn Minuten weg und seither wie vom Erdboden verschwunden.« Der langjährige Stammgast des Beau Rivage schüttelte missbilligend den Kopf. »Eine ganz klare Arbeitsverweigerung, wenn Sie mich fragen. Aber Konsequenzen hat's natürlich keine. Es sei denn, die Dubois kriegt das mit. Die sitzt ihren Leuten noch im Nacken, kann ich Ihnen sagen, die alte Schule eben. Aber das hat heute keine Konjunktur.«
Leon dachte an das kurze Gespräch, das er mit Lauras Patentante geführt hatte. »Kennen Sie Miss Dubois schon lange?«
»Klar«, nickte Albrecht. »Seit wir herkommen. Aber da gehörte ihr der Laden natürlich schon lange nicht mehr.« Er überlegte kurz. »Das heißt, streng genommen hat er ihr nie gehört. Sie ist ja noch ein Kind gewesen, als ihr Vater verkaufen musste.«
Leon starrte ihn an. »Was?«
»Das Hotel«, erklärte Albrecht bereitwillig. »Es hat früher mal Miss Dubois' Vater gehört. Der war'n großes Tier im Widerstand, und sie geht auch immer noch in diesen Club, Sie wissen schon, CIOS oder wie die heißen, Channel Islands Occupation Society.«
Verdammt, dachte Leon, der arme Pierre! Warum, zum Teufel, kann ich nicht einfach mal vernünftig zuhören? Im Geiste sah er Bernadette Labraque vor sich am Küchentisch sitzen. Er hat keine andere Arbeit mehr gefunden. War ja nirgendwo was zu holen nach dem Krieg. Also fing er an zu saufen. Und ein paar Jahre später hat er sich umgebracht. Aufgeknüpft auf dem Dachboden haben sie ihn gefunden. Leon nickte. Da war es endlich, das Motiv, nach dem er so lange gesucht hatte! Pierre Dubois, der hochdekorierte Kriegsheld, war auf der Strecke geblieben. Er hatte seinen gesamten Besitz verloren – ausgerechnet an den Feind, den er so tapfer bekämpft hatte. Und seine Tochter hatte einen Schuldigen gesucht.
Leon zog seinen Freund ein Stück beiseite und unterbreitete ihm seine Theorie. »Cora muss Nicholas Bradley und seine Familie für den sozialen Abstieg ihrer Familie verantwortlich gemacht haben«, schloss er, »und sie beschließt, sich zu rächen. Sie hält engen Kontakt zu dem Mann, den sie hasst, was ihr leicht fällt, denn zufällig ist sie die beste Freundin seiner Ehefrau. Sie wird Patin seiner ältesten Tochter und macht sich unentbehrlich. Und als Louisa Bradley Selbstmord begeht ...«
»Ein weiterer Selbstmord?«, fragte Kevin ungläubig.
»Oder eine gezielte Manipulation«, sagte Leon.
Sie hatte direkt den Verfolgungswahn, die Ärmste, nickte Bernadette Labraque.
»Wie auch immer«, fuhr er fort. »Nach dem Tod ihrer Freundin geht Cora Dubois im Herrenhaus ein und aus. Sie kocht, sie sorgt für die Mädchen und nebenbei verbringt sie viel Zeit im Hotel ihres Vaters, wo sie aufgrund ihrer Durchsetzungsfähigkeit und Kompetenz hoch geachtetwird. Kurz gesagt: Sie ist fast wieder da, von wo ihr Vater viele Jahre zuvor vertrieben wurde.«
»Aber Nicholas Bradley war ein
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