Blut Von Deinem Blute
nötig, nach jemand anderem zu suchen ...«
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Die meisten Personen auf den Bildern waren Laura vollkommen unbekannt. In einigen erkannte sie das Kindergesicht ihrer Patentante. Die kleine Cora trug ein rüschenbesetztes Kleid, das hochoffiziell aussah. Ein anderes Mal stand sie auf den Stufen des Herrenhauses neben einer blassen, zierlichen Frau, deren Züge denen der erwachsenen Cora nicht unähnlich waren.
Wahrscheinlich die Mutter, dachte Laura, indem sie die Aufnahme beiseite legte und noch einmal in den Karton griff. Ganz unten befanden sich einige Zeitungsausschnitte, von denen einer am Boden des Kartons hängen blieb, als sie den Stapel zu fassen bekam. Schuldbewusst faltete Laura den Ausschnitt auseinander und hielt das brüchige Papier ins Licht der Lampe. Der Artikel stammte aus dem Jahr 1937 und berichtete über das hundertjährige Bestehen des Beau Rivage. Illustriert wurde der Bericht von einem Foto, das einen ganz ähnlichen Ausschnitt zeigte wie das Bild, das Laura zuletzt in den Händen gehalten hatte: Auf den Stufen des Herrenhauses stand ein dunkelhaarigerMann mit feierlicher Miene und weißer Nelke im Knopfloch seines eleganten Ausgehanzugs. Monsieur Beau Rivage , stand unter dem Foto, Pierre Dubois ...
Laura runzelte die Stirn. Was hatte das zu bedeuten?
Sie griff abermals in die Fotokiste und zog die anderen Zeitungsausschnitte hervor.
Hotelier begeht Selbstmord, lautete die Überschrift einer anderen kurzen Notiz, die ihre Patentante vor langer Zeit aus dem Mitteilungsblatt der Gemeinde St. Brelade ausgeschnitten hatte.
Pierre Dubois, der ehemalige Besitzer des traditionsreichen Hotels Beau Rivage, hat sich das Leben genommen. Seine Tochter fand ihn am gestrigen Mittwoch erhängt auf dem Dachboden seines Hauses in der Rue Saint Michel. Über die möglichen Hintergründe wurde zunächst nichts bekannt. Allerdings soll Dubois nach dem Krieg mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt haben und überdies gesundheitlich angeschlagen gewesen sein. Für sein mutiges Engagement gegen den Nazi-Terror erhielt er verschiedene Auszeichnungen, darunter 1949 den Tapferkeitsorden des Bailiff von Jersey. Dubois wurde 51 Jahre alt.
Laura starrte den Artikel an. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, wurden unlesbar und standen kurz darauf wieder gestochen scharf vor ihr. Sie wusste, sie hatte endlich die Erklärung gefunden, nach der sie so lange gesucht hatte. Ausgerechnet hier, in diesem warmen, gemütlichen Haus, das sie als einen Hort betrachtet hatte, seit sie denken konnte.
Eine kühle, beinahe gespenstische Ruhe breitete sich über ihren Körper, während sie den letzten der drei Zeitungsausschnitte auseinanderfaltete, eine Todesanzeige.
MARCEl, stand dort in großen schwarzen Lettern neben einem schlichten Kreuz. AM 16. MAI 1959 VERSTARB DURCH EINEN TRAGISCHEN UNGLÜCKSFALL UNSER GELIEBTER SOHN MARCEL.
Unterzeichnet war die Anzeige mit: IM NAMEN ALLER ANVERWANDTEN: PIERRE UND CATHERINE DUBOIS.
Laura schloss die Augen.
Sie zitterte nicht mehr. Die Erschöpfung war verflogen. Zu erschreckend die Erkenntnis, zu perfide die Falle, als dass in ihrem Kopf noch Raum für Angst oder gar Panik gewesen wäre. Nur Erschütterung. Und diese eigenartig klamme Ruhe.
Es passte alles! Wenn man die einzelnen Puzzleteile aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete, fügten sie sich wie von Zauberhand zu einem stimmigen Bild zusammen. Coras Vater hatte das Hotel, das seit Generationen im Besitz seiner Familie gewesen war, an Hans von Stetten verloren. Pierre Dubois, der Herr des Beau Rivage, der als einer der wenigen aktiv gegen die deutschen Besatzer gekämpft und dabei mehr als einmal sein Leben riskiert hatte, war mit seiner Frau und den beiden Kindern aus dem Wohnhaus der Familie in der Avenue La Trouille ausgezogen. Glanzlos, desillusioniert und ohne jede Aussicht auf eine neue, sinnvolle Aufgabe. Und dann, nur wenige Jahre später, hatte ihn der Schicksalsschlag ereilt, der ihm den Rest gegeben hatte ...
Laura machte die Augen wieder auf. MARCEL, flimmerte es auf dem vergilbten Papier vor ihr. Der Junge, der am 16. Mai 1959 aus dem Flurfenster vor der Bücherei von St. Andrews gestürzt war, war Coras Bruder gewesen. Und er war zu ihrem ersten Opfer geworden.
Sie war böse. Schon als Kind ...
Laura schauderte. Ob Pierre Dubois geahnt hatte, dass es seine eigene Tochter gewesen war, die seinen Sohn getötet hatte? Wahrscheinlich nicht, dachte sie. Nein, bestimmt
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