Blut Von Deinem Blute
allem, was du mir erzählt hast, kann man quasi jederzeit damit rechnen, dass Anklage erhoben wird.«
»Aber sie ist unschuldig.«
»Das behauptest du ...«
»Wenn du die Tote gesehen hättest ...« Leon rang nach Worten. »Laura könnte niemals so grausam sein.«
»Ist das, was sie da mit eurem Baby abzieht, nicht grausam?«
»Das ist was anderes.«
»So?« Kevin atmete tief durch. »Okay, lassen wir das. Was war das mit Mia Bradleys Krankenakte?«
»Mich hat dieser Psychologe nicht losgelassen, zu dem Nicholas Bradley Mia kurz vor seinem Tod geschleppt hat«, erklärte Leon, froh über etwas sprechen zu können, das ihn ablenkte.
»Und da spazierst du eben mal in eine Arztpraxis und verschaffst dir Zugang zu streng vertraulichen Akten?«
»Das hatte ich nicht vor«, verteidigte sich Leon. »Es hat sich einfach so ergeben.«
»Blödsinn«, fegte Kevin seinen Erklärungsversuch vom Tisch. »Du hast dich strafbar gemacht. Und wofür?«
»Für eine Gewissheit, die ich auf andere Weise nie bekommen hätte.« Leon sah aus dem Fenster, wo es bereits wieder dunkel war. »Selbst die Polizei hatte damals keine Handhabe, den Bericht einzusehen.«
»Aus gutem Grund«, versetzte Kevin. Und eine Spurversöhnlicher fügte er hinzu: »Und was hatte es nun mit deinem ominösen Psychologen auf sich?«
»Nicholas Bradley scheint ein ziemlicher Arsch gewesen zu sein«, antwortete Leon. »Aber eins hat er erkannt.«
»Was?«
»Mias Talent.« Leon lehnte sich zurück. »Bradley ist nicht nach London gefahren, weil er seine Tochter für verrückt hielt, sondern um sie auf Hochbegabung testen zu lassen.«
»Und?«, fragte Kevin. »Was ist bei diesem Test herausgekommen?«
»Dass sie einen IQ von 154 hat.«
»Wow.« Er schob seinen Teller von sich. »Aber warum verheimlicht man so ein Ergebnis? Ich meine, außer Bradley und seiner Tochter scheint doch niemand gewusst zu haben, was die Tests ergeben haben.«
»Stimmt«, gab Leon zu. »Soweit ich weiß, sprach Bradley weder über Mias Testergebnisse noch über die Ausstellung, die er ihr schenken wollte.« Er seufzte. »Und seine zweite Frau hat er auch in aller Heimlichkeit geheiratet.«
»Ein echter Geheimniskrämer, was?«
»Vielleicht hatte er Angst.«
Kevin blickte zweifelnd drein. »Wohl kaum vor seinen Töchtern, oder?«
»Ich habe noch etwas herausgefunden.« Leon zögerte. Er verspürte eine eigentümliche Ruhe, etwas zutiefst Unechtes, das ihm zwar einerseits Abstand verschaffte, aber andererseits das Gefühl vermittelte, neben sich zu stehen. Wie ein unbeteiligter Beobachter. »Mia Bradley war zum Zeitpunkt der Morde im dritten Monat schwanger.«
»Was?« Seinem Freund fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Ach, du Scheiße! Und von wem?«
Leon zuckte die Achseln. »Julien Bresson behauptet, Ryan Marquette damals hin und wieder auf ihrem Zimmer gesehen zu haben.«
»Er könnte auch lügen.«
»Ja«, sagte Leon. »Könnte er.«
Ginny war ja damals immer auf dem Posten, flüsterte Bernadette Labraque, weil sie sich einredete, ihr Mann sei hinter Bradleys Tochter her ...
»Hat Mia das Kind bekommen?«, fragte Kevin.
Leon schüttelte den Kopf. »Laut Krankenakte hatte sie eine Fehlgeburt.« Er stutzte, als neue Erinnerungsfetzen durch seine Gedanken zuckten. Etwas, das Ginny Marquette gesagt hatte: Die Arme war vollkommen außer sich, damals. Sie schrie und tobte und trat nach uns. Wir mussten sie mit drei Leuten festhalten, damit Dr. Jennings ihr eine Spritze geben konnte.
»Scheiße«, rief er.
»Was?«, fragte Kevin.
»Mia Bradley hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen, nachdem sie die Leichen entdeckt hatte«, stieß Leon hervor. »Kann so was nicht eine Fehlgeburt auslösen?«
»Klar.« Sein Freund nickte. »Schwangere dürfen nicht mal Hustensaft schlucken.«
»Dann ist sie also wirklich unschuldig.« Leon fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Sie wollte noch nie fort von hier. Sie wollte nicht Kunst studieren. Und ihr Vater wollte ihr eine Ausstellung finanzieren, weil er von ihrer Begabung wusste und stolz auf sie war.« Er sah seinen Freund an. »Sie hatte keinen Grund, ihn zu töten.«
»Aber warum hat sie nicht gesagt, dass sie schwanger ist?«, wandte Kevin ein. »Der Umstand, dass sie zum Zeitpunktder Tat ein Kind erwartete, hätte sie doch entlastet.«
»Vielleicht wollte sie gar nicht entlastet werden.«
»Warum nicht?«
»Na ja ...« Leon schob sein Glas von sich. »Solange man sie für die Täterin hielt, war es nicht
Weitere Kostenlose Bücher