Blut Von Deinem Blute
völlig anders wirkt als das Blitzen und die Funken, die meine Schwester üblicherweise versprüht, wenn sie wütend ist, aber es ist keinen Deut weniger elementar. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass es noch viel stärker ist, und mein erster Gedanke ist, dass ich mich an Mias Stelle in Zukunft sehr in Acht nehmen würde ...
9
Wenn man doch nur im Voraus wüsste, wohin die Dinge führen! Leon de Winters Finger spielten mit dem zusammengefalteten Blatt Papier in seiner Hand. Die Kopie eines Zeitungsartikels. Ein Auftakt. Eine Quelle. Der Historiker in ihm lächelte ironisch. Der Rest seiner Persönlichkeit war einfach nur ratlos.
Er warf den Artikel auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück. Vor dem Fenster seiner Viereinhalbzimmer-Altbauwohnung im Frankfurter Westend klebte die Schwärze eines komplett verregneten Spätsommerabends, und Leon hatte das unbequeme Gefühl, dass der Sommer bereits die Segel gestrichen hatte.
Sie meldete sich einfach nicht. Und das nach ihrer höchst seltsamen Begegnung von vorgestern.
Er hatte etwas im Verlag zu regeln gehabt und kurzerhand auf sie gewartet. Im Foyer des Erdgeschosses gab es Sitzgruppen, die recht gemütlich waren. Dort konnte man einen Kaffee trinken, während man die Zeitung las. Oder die Aufzüge im Auge behielt ...
»Wie wär's mit Mittagessen?«, hatte er gefragt, als sie an ihm vorbeigekommen war.
Und Laura hatte ihn so entgeistert angestarrt, als habe er ihr ein unmoralisches Angebot unterbreitet. »Ich habe keine Zeit.«
»Ein wichtiger Termin?«, hatte er sich nicht verkneifen können zu fragen.
Doch eigenartigerweise hatte sie eher hilflos herumgestammelt, anstatt ihm – was viel eher zu ihr passte – in Gesicht zu sagen, dass es ihn auf gut Deutsch gesagt einenScheißdreck angehe, was sie vorhabe. Ja, sie habe etwas zu erledigen. Aber es sei nicht direkt ein Termin. Also nichts Geschäftliches. Dann war sie an ihm vorbei gestürmt. »Es tut mir leid«, hatte sie noch gerufen. Und: »Ich rufe dich später an, ja?«
Leon bedachte das Mobiltelefon auf seinem Schreibtisch mit einem spöttischen Blick. Natürlich hatte sie nicht angerufen. Weder an dem betreffenden Abend noch gestern. Und heute früh hatte er in der Agentur erfahren, dass Laura ein paar Tage Urlaub genommen hatte. Er hatte daraufhin lange mit sich gerungen, ob er es auf dem Handy versuchen sollte. Er hatte seine Willensstärke erprobt, sich wieder und wieder vorgebetet, dass er ihr nicht nachlaufen dürfe und dass man Gefühle, wie er sie sich erträumte, nun einmal nicht erzwingen könne. Und dann hatte er doch zum Telefon gegriffen wie ein entzugsgeplagter Junkie.
Oder war es doch dieser Artikel, der ihn dazu brachte, seinen Stolz zu vergessen?
Dieses höchst seltsame Zusammentreffen?
Kopfschüttelnd griff er wieder nach der Kopie auf seinem Schreibtisch. Doch im selben Moment läutete es an der Wohnungstür. Dem Klingeln folgte ein Klopfen. Viermal, kurz und energisch. Dann hörte Leon das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels im Schloss.
»Scheiße noch mal, jetzt sag bloß, du bist nicht zu Hause«, fluchte Kevin Bogdanski, mit dem er befreundet war, seit er denken konnte.
Bis vor ein paar Jahren hatten sie gemeinsam in dieser Wohnung gelebt, dann war Kevin auf Drängen seiner damaligen Freundin ausgezogen. Die Freundin samt gemeinsamer Wohnung hatte sich längst erledigt, aber den Schlüsselzu seinem alten Domizil hütete Kevin wie seinen Augapfel. Und manchmal beschlich Leon das Gefühl, dass er am liebsten sofort wieder eingezogen wäre.
»Ich bin hier«, rief er, indem er den Zeitungsartikel mit der beschriebenen Seite nach unten auf den Schreibtisch legte. »Komm rein.«
»Was ist los?« Kevin kam mit der ihm eigenen Energie durch die Tür gefegt, betätigte nebenbei den Lichtschalter und blieb dann unmittelbar vor Leons Schreibtisch stehen. »Warum hockst du hier allein im Dunkeln?«
»Ich habe nachgedacht.«
»Nachgedacht? Du liebe Güte, tust du das in deinem Job nicht schon zur Genüge?«
Leon lächelte. Seit seinem Entschluss, einem Geschichtsstudium den Vorzug vor BWL oder Jura zu geben, hörte Kevin nicht auf, sich bei jeder Gelegenheit über die Brot-und Sinnlosigkeit eines Daseins als Historiker auszulassen. Er selbst war Jurist, hatte nebenbei seinen Fachhochschulabschluss als Betriebswirt gemacht und verdiente sich seither dumm und dämlich mit der Beratung namhafter Großkonzerne.
»Und worüber hast du ...« – er legte theatralisch eine
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