Blut Von Deinem Blute
zu zeichnen. Wahrscheinlich könnte sie einen Haufen Geld verdienen, wenn sie sich auf die Promenade setzen und Portraits von Touristen machen würde. Aber davon will sie natürlich nichts wissen.
Muss sie auch nicht, denke ich, und ich merke, wie die alte Wut wieder in mir hoch kocht. Sie legt sich um meinen Magen wie die Hand eines Fremden, und für einen kurzen Moment habe ich das Bedürfnis, einen der Steine zu nehmen, die überall herumliegen, und meiner Schwester den Schädel einzuschlagen.
Das Papier ihres Zeichenblocks, auf dem die Klippen unter uns als labyrinthische Zauberwelt festgehalten sind, ist nicht länger von schlechter Qualität. Im Gegenteil, es ist extradick und extrateuer. Und Ölfarben besitzt meine Schwester jetzt auch. Eigene, meine ich. Nicht geklaute.
Ich blicke an ihr vorbei aufs Meer hinaus und denke, dass wir uns von dem Geld, das dieser bescheuerte Zeichenblock gekostet hat, stapelweise Schreibhefte kaufen könnten. Aber das erlaubt unser Vater nach wie vor nicht.
Er ist lange in Mias Zimmer gewesen, an jenem Nachmittag, an dem Madame Bresson bei uns eingezogen ist. Sehr lange. Und als er schließlich wieder herunter kam, hatte ich sofort das Gefühl, dass er einen Kampf verloren hatte. Dieses Gefühl bestätigte sich, als er ein paar Tage später mit Bohrmaschine und Hammer in der Scheune verschwand und damit begann, meiner Schwester ein Atelier einzurichten.
Seither treibt mich die Frage um, warum sie entschädigt wird und ich nicht.
Schließlich habe ich genauso unter Madame Bresson zu leiden. Vielleicht sogar noch mehr.
Vor meiner Schwester hat unsere verehrte Stiefmutter nämlich eine Heidenangst. Und Mia genießt es, sie fertigzumachen. Zugleich biedert sie sich neuerdings an, dass einem glatt das Kotzen kommen könnte. Nicht bei Madame Bresson natürlich, sondern bei mir. Andauernd will sie, dass wir etwas zusammen unternehmen. Sie schenkt mir Bücher und lädt mich ins Kino oder zu einem Ausflug ein.
So wie heute ...
Meine Arme sind kalt vom Wind, und ich denke, dass ich doch lieber zu Hause geblieben wäre. Weit draußen entdecke ich ein Boot, das lächerlich winzig wirkt in der blauen Weite der See, und ich überlege, ob ich es wagen würde, so ein Boot zu besteigen, wenn ich wüsste, dass ich auf diese Weise ein für alle Mal von hier fortkomme.
»Das ist bestimmt Louisa Journeaux«, sagt Mia, die meinem Blick gefolgt ist.
Und ich nicke und habe für einen flüchtigen Moment tatsächlich den Eindruck, ein junges Mädchen in einem weißen Sommerkleid zu sehen, das sich verzweifelt an der Reling festklammert.
Die Geschichte von Louisa Journeaux, jenem Mädchen aus gutem Hause, das von einem Bootsausflug mit seinem Freund nicht zurückkehrte, kennt hier auf Jersey praktisch jeder. Mir ist sie in der Grundschule zum ersten Mal begegnet, und ich weiß noch, dass ich besonders gut zuhörte, weil meine Mutter genauso hieß. Louisas Freund, ein junger Franzose namens Jules Farné, hatte durch eine Ungeschicklichkeit beide Ruder verloren und sprang ins Wasser, um diese zurückzuholen, während das Boot mit Louisa an Bord durch die Strömung immer weiter aufs offene Meer hinausgezogen wurde. Als Jules sah, dass er seine Freundin nicht mehr erreichen konnte, schwamm er an Land, um Hilfe zu holen, doch zu seinem Unglück konnten die Helfer das Boot nicht mehr finden. Die Suche wurde irgendwann eingestellt und Jules Farné des Mordes beschuldigt. Er floh in seine Heimat Frankreich, doch ein paar Wochen später erhielten Louisas trauernde Eltern ein Telegramm aus Kanada, in dem die dortigen Behörden ihnen mitteilten, dass ihre Tochter wohlauf sei. Es war Louisa nämlich gelungen, die Besatzung eines Frachters auf sich aufmerksam zu machen, und dieser Frachter hatte sie mit nach Neufundland genommen, von wo aus sie mit dem nächsten Schiff zurückkehrte. Die Toads bereiteten ihr ein fulminantes Willkommen, und sie lebte noch viele Jahre glücklich und in Frieden, und so weiter und so fort ... Gott, ich konnte Märchen noch nie ausstehen!
Trotzdem schaue ich dem Boot nach, das sich immer weiter entfernt, und irgendwann kippt es einfach nach hinten über die Kante des Horizonts und ist verschwunden.
Stattdessen rüttelt Mia auf einmal an meiner Schulter. »Hey«, faucht sie mich an, und ich denke, dass sie schon genau wie unser Vater klingt. »Wo bist du denn wieder mit deinen Gedanken?«
Verwundert registriere ich, dass es dämmrig geworden ist und meine Schwester bereits
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