Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
Schreibtisch. »Hier«, sagte er. »Lies das.«

10
    Laura schreckte aus wirren, beunruhigenden Gedanken hoch, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Draußen war es fast dunkel geworden. Auf dem nackten Tisch flackerte Mias Kerze. Mia selbst war nach ihrem Ausbruch mit einer gemurmelten Entschuldigung irgendwohin verschwunden und bislang nicht wieder aufgetaucht, und Laura brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass das, was sie soeben gehört hatte, von draußen gekommen war. Vom Fenster.
    Etwas war gegen die Scheibe geschlagen.
    Sie wandte den Kopf zu den noch immer halb geschlossenen Vorhängen, zwischen denen ein schwarzspiegelnder Streifen Glas zu sehen war. War das ein Vogel gewesen oder ein Insekt, das – angelockt vom Flackerlicht der Kerze – gegen die Scheibe geprallt war? Oder hatte jemand mit der Hand dagegen geschlagen? Laura runzelte die Stirn. Die Fenster des Salons lagen zu hoch, als dass jemand sie aus dem Stand hätte erreichen können, selbst wenn derjenige direkt darunter stand. Man würde schon springen müssen, dachte sie. Und warum sollte jemand das tun?
    Sie blickte zur Tür, durch die ihre Schwester verschwunden war, und überlegte, wie lange Mia schon fort war. Zehn Minuten? Fünfzehn?
    Im selben Moment wiederholte sich das Geräusch, das sie aufgeschreckt hatte, und dieses Mal war Laura absolut sicher: Jemand hatte etwas von außen gegen das Fenster geworfen. Sie stand auf und ging auf den finsteren Schlitz zwischen den Vorhängen zu. Doch die Scheibe spiegelte so sehr, dass sie nichts als sich selbst darin erkennen konnte. Also zog sie den Vorhang zurück und öffnete einen der Fensterflügel. Sofort schwappte ein Schwall frischer Seeluft herein. Irgendwo rechts unter sich nahm Laura das Knirschen von Schritten wahr. Schritte, die sich hastig entfernten. Außerdem war ihr, als höre sie ein leises Kichern im Schatten der Mauer, dort, wo die enge Gasse, die hinter dem Hotel entlang zur nächsten Querstraße führte, am dunkelsten war. Waren das etwa Kinder da draußen?
    Sie wartete einen Moment, doch in der Dunkelheit unter dem Fenster blieb alles still.
    Als sie sich wieder umdrehte, stand Mia beim Tisch. Sie sah belustigt aus.
    »Tomate oder Milchshake?«
    Erst jetzt bemerkte Laura den weißlichen Schleim, der langsam und zähflüssig an der Scheibe des geöffneten Fensterflügels hinab rann. »Milchshake, würde ich sagen.«
    »Lass sehen.« Ihre Schwester hastete quer durch den Raum und beugte sich über die Lache, die sich auf der staubigen Fensterbank gesammelt hatte, wobei sie die Nase kräuselte und durch die Luft schnüffelte wie ein witterndes Tier. »Oh ... Ja, ich glaube, du hast recht ...« Sie fuhr mit dem Zeigefinger durch die Flüssigkeit und steckte ihn sich dann zu Lauras Entsetzen geradewegs in den Mund. »Milchshake«, befand sie, schlürfend und schmatzend wie ein Weinkenner. »Vanille, nicht mehr ganz frisch.«
    Laura verzog angeekelt das Gesicht, während ihre Schwester den Kopf aus dem Fenster schob. Sie lauschte eine Weile in die Dunkelheit. Dann zuckte sie die Achseln und wischte die Fensterbank mit dem Saum ihres T-Shirts ab.
    Und wieder fielen Laura ihre abgekauten Nägel auf. »Kommt so was öfter vor?«
    Mia antwortete nicht. Ihr weicher, eigentümlich schmaler Rücken unter dem schwarzen T-Shirt wirkte müde, und auf einmal empfand Laura nun doch etwas wie Reue. Sie hatte sich fünfzehn Jahre nicht um ihre Schwester gekümmert. Eine kurze Karte zum Geburtstag, ein liebloses Päckchen zu Weihnachten. Mehr hatte sie einfach nicht über sich gebracht. Aber war Mia denn wirklich allein gewesen? Auch an Heiligabend? Auch an jedem neunundzwanzigsten August? In diesem Haus? Laura schluckte. War es vielleicht doch zu bequem gewesen, sich einzureden, irgendjemand werde schon nach ihr sehen?
    Ihre Augen glitten wieder zum Fenster, als der Rückenihrer Schwester urplötzlich in Bewegung geriet. Es schien fast, als realisiere Mia erst jetzt, was gerade geschehen war. Die Muskeln unter dem dünnen T-Shirt spannten sich, und eine jähe Wut ließ das Blut in ihren Wangen auflodern.
    »Diese gottverdammten Scheißgören«, keifte sie, indem sie sich weit in die anbrechende Nacht hinausbeugte. »Jetzt muss ich die verfickten Fenster schon wieder putzen. Aber passt bloß auf! Wenn ich euch erwische, hack ich euch in Stücke und fress euch zum Frühstück, verlasst euch drauf, ihr elenden, kleinen Wichser!« Sie knallte das Fenster zu und drehte sich zu Laura um.

Weitere Kostenlose Bücher