Blut Von Deinem Blute
natürlich, sie ist schön und intelligent und all das. Aber glaub mir, so wie du nun mal gestrickt bist, wirst du mit ihr nicht glücklich werden können.«
»Wie bin ich denn gestrickt?«, fragte Leon, weil ihn die Antwort wirklich interessierte.
»Du bist der Alles-oder-nichts-Typ«, entgegnete Kevin. »In dieser Hinsicht nehmt ihr euch alle nichts.«
»Wen genau meinst du mit ihr alle?«
Kevin schob trotzig die Unterlippe vor, wie immer, wenn er wusste, dass er zu weit ging, andererseits aber der Meinung war, seinem Gegenüber eine unbequeme Wahrheit nicht ersparen zu dürfen. »Du bist so, deine Mutter istso ...« Er zögerte und entschied dann, zunächst bei Leons Mutter einzuhaken, bevor er sich noch weiter aufs Eis wagte. »Ich erinnere mich gut daran, wie sie euren Vater immer die Hintertreppe raufgeführt hat, wenn er wieder mal stinkbesoffen und lippenstiftbeschmiert von irgendeiner bescheuerten Premierenfeier kam. Und dabei hat sie nie auch nur ein einziges böses Wort über ihn verloren. Nicht mal, als sie mitansehen musste, wie sich Tonia beinahe umbringt bei dem Versuch, ihren Super-Hyper-Schauspieler-Vater zu beeindrucken.«
Leon blickte auf seine Schreibunterlage, unter der ein fleckiger Zettel mit einem Sinnspruch steckte, den er irgendwann einmal aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte. Tonia, seine Schwester, war sechsundzwanzig Jahre alt und lebte nun schon seit achtzehn Monaten in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik bei Lüneburg. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Tonia hatte von klein auf Ballettunterricht genommen. Sie hatte die Aufnahmeprüfung an der renommierten John-Cranco-Schule bestanden und dort eine Tanzausbildung begonnen. Doch dann musste irgendetwas vorgefallen sein, das sie vom Kurs abgebracht hatte. Leon hatte nie herausgefunden, was es gewesen war, er wusste nur, dass seine Schwester das Internat von einem Tag auf den anderen verlassen hatte und weder durch gutes Zureden noch durch Druck dazu zu bewegen gewesen war, ihre Ausbildung fortzusetzen. Stattdessen hatte sie sich an mehreren kleinen Off-Theatern als Schauspielerin versucht, war nebenbei kellnern gegangen und hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, mittels einer Abendschule doch noch in den Besitz eines Abiturzeugnisses zu kommen. Und einesTages – an einem dreiundzwanzigsten Mai – war sie einfach zusammengebrochen. Auf offener Straße, ohne Vorwarnung und ohne sichtbaren Anlass. Nach dem Anruf war Leon ins dreihundert Kilometer entfernte Berlin geeilt, wo ihn ein abgehetzter Arzt in knappen Worten darüber informiert hatte, dass seine Schwester unter Bulimie leide, Appetitzügler und Beruhigungsmittel schlucke und sich in schöner Regelmäßigkeit mit einer Rasierklinge die Arme aufritze. Kurz gesagt: Seine Schwester tat alles, um sich selbst zu zerstören, und Leon hatte nicht die geringste Ahnung, wie er sie dazu bringen sollte, damit aufzuhören.
»Wie geht es Tonia übrigens?«, fragte Kevin in die Stille, die sich zwischen ihnen breitgemacht hatte.
»Ehrlich? Ich weiß es nicht.«
»Telefoniert ihr nicht mehr?«
»Selten.« Leons Blick krallte sich Halt suchend an der Schreibtischkante fest. »Und wenn, behauptet sie immer, dass alles in Ordnung ist.«
»Aber das glaubst du ihr nicht?«
Er zuckte die Achseln. »Ich fürchte, ich traue ihr einfach nicht mehr.«
»Vielleicht tust du ihr Unrecht.«
»Ja, vielleicht.«
Seine Einsilbigkeit entlockte Kevin ein entnervtes Stöhnen. »Glaubst du, sie schafft irgendwann noch mal den Absprung?«, fragte er. »Ich meine, raus aus dieser Klinik und zurück in ein normales Leben.«
»Ich hoffe es.«
»Und was ist mit dir?« Sein Blick war ungewohnt weich. »Schaffst du den Absprung auch irgendwann?«
»Du meinst den Absprung von Laura?«
Kevin nickte. »Tu dir und mir den Gefallen und mach endlich Schluss mit ihr.«
»Das ist nicht so einfach.«
»Schon klar«, räumte er ein. »Aber wenn du erst mal durch das tiefste Tal durch bist ...«
»Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Leon. »Es ist ... Da ist noch was anderes.«
Er konnte sehen, dass seinem Freund bereits eine entsprechende Frage auf der Zunge lag, doch Kevin wollte offenbar nicht aufdringlich sein und wartete ab.
»Es könnte sein, dass Laura in Schwierigkeiten steckt.«
»Schwierigkeiten?« Kevin kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Was denn für Schwierigkeiten?«
Leon atmete tief durch. Dann reichte er seinem Freund den Artikel über den
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