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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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gut?«
    Ginny Marquette legte ihren Kugelschreiber zur Seite. Jahrzehntelang hat niemand auch nur bemerkt, dass ich da bin, dachte sie. Und auf einmal fragt mich jeder, was mit mir los ist. Ist das nicht eigentlich urkomisch?
    »Ich bin müde«, wiederholte sie ihre Aussage von vorhin, wohl wissend, dass eine Frau wie Cora Dubois damit ebenso wenig zu täuschen war wie ihre Mutter.
    Aber immerhin war Cora diskret genug, um auf bohrende Rückfragen zu verzichten. »Hat sich Mia heute schon hier blicken lassen?«, wechselte sie stattdessen elegant das Thema.
    Ginny verneinte.
    »Na, grandios«, bemerkte Cora mit einem entnervten Kopfschütteln. »Und dabei hat sie mir ausdrücklich zugesagt, dass sie sich noch heute Nachmittag persönlich um die Sache kümmert.«
    »Um welche Sache?«, fragte Ginny, die nicht ganz folgen konnte.
    Doch Cora kam nicht dazu, ihr zu antworten, weil im selben Augenblick Lynn Sanders, eine frischgebackene Fachhochschulabsolventin mit Saisonvertrag, zu ihnen an die Rezeption trat.
    »Hier ist die Post, M'am«, verkündete sie, indem sie einen Stapel Briefe vor Ginny auf den Tresen warf, und ihr aufreizend gelangweilter Tonfall ließ umgehend Coras Brauen in die Höhe schnellen – eine Mischung aus Missbilligung und der unmissverständlichen Aufforderung an Ginny, sich dergleichen auf keinen Fall bieten zu lassen.
    Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Ginny mit wachsender Verzweiflung. Wenn ich eine reelle Chance hätte ...
    Lynn arbeitete nun seit knapp drei Monaten im Beau Rivage, und am Anfang hatte sie sich durchaus freundlich und bemüht gezeigt. Doch seit ein paar Wochen beobachtete Ginny an der Zweiundzwanzigjährigen das typische Verhalten, das alle weiblichen Saisonkräfte an den Tag legten, sobald es ihnen gelungen war, mit Ryan in die Kiste zu steigen: Sie bedachten die Ehefrau des Bosses mit herausfordernden Blicken und taten ab sofort nur noch, wonach ihnen der Sinn stand. Ginny hatte in den vergangenen Jahren unzählige solcher Mädchen kommen und gehen sehen, allesamt jung, dunkelhaarig und lebenshungrig, und ihr einziger Trost hatte stets in dem Wissen bestanden, dass die Mädchen von selbst wieder verschwanden, wenn der Sommer vorüber war. Ein reichlich dürftiger Trost, der sie kaum gegen all die Unverschämtheiten zu wappnen vermochte, mit denen Ryans Gespielinnen ihre vermeintlicheMacht demonstrierten. Die Abreise in der dritten Etage? Oh, Mrs. Marquette, die würde ich natürlich sehr gern übernehmen, aber Ihr Mann hat ausdrücklich gesagt, ich soll hier an der Rezeption bleiben ...
    Ginny starrte auf ihre Finger hinunter, die sich so fest um die Briefe krampften, dass die Knöchel weiß hervortraten. Warum tut Ryan mir das an?, dachte sie, während eine Welle kalter Wut durch ihre Adern pulste. Wie kann er es wagen, mich derart ins Messer laufen zu lassen?
    »Ginny?«
    Das war Cora. Sie hatte ein Telefon in der Hand, und ihre Miene spiegelte Besorgnis, aber auch Angriffslust. Und Letztere richtete sich eindeutig gegen das junge Mädchen, das neben ihr am Empfang lehnte.
    »Ja?«
    Cora sah auf ihre Armbanduhr. »Pierre hat sich krank gemeldet, was bedeutet, dass uns spätestens in einer Stunde jemand am Buffet fehlt.« Sie warf das Telefon auf die Theke und ließ ihre Augen mit ruhiger Souveränität über den makellosen Körper von Ryans jüngster Gespielin wandern. »Würden Sie das bitte übernehmen?«
    Lynn Sanders blickte überrascht auf. »Ich?«
    »Ja, Sie.« Cora verzog keine Miene. »Oder sehen Sie hier vielleicht sonst noch jemanden, mit dem ich gesprochen haben könnte?«
    Die junge Hotelangestellte stieß sich vom Tresen ab, und einen Moment lang schien es, als schöpfe sie aus ihrer Liaison mit dem Manager des Hauses genug Sicherheit, um es auch auf eine Auseinandersetzung mit der erfahrenen Cora ankommen zu lassen. Doch nach einem langen, taxierenden Blick in das Gesicht der noch immer ausnehmendattraktiven Sechzigerin entschied sie sich anders. »Wie Sie wünschen, Miss Dubois«, sagte sie und verschwand grußlos Richtung Frühstücksraum.
    »Ich danke dir«, seufzte Ginny, als sie außer Sichtweite war.
    Cora machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich dann den Dienstplänen zu, die hinter dem Tresen an der Wand hingen.
    Ginny betrachtete ihren Rücken und merkte, wie die Wut, die sie noch vor wenigen Sekunden beherrscht hatte, wieder in sich zusammenfiel. Übrig blieb die altbekannte Mutlosigkeit. Die Leere, vor der sie sich zeit ihres

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