Blut Von Deinem Blute
aus ihrer Klasse sie auf der Wippe geärgert hatten. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund zeigte sie immer nur falsche Reaktionen!
Cora Dubois hatte den Kopf abgewandt und blickte zum Strand hinunter. »Fünfzehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit«, sagte sie. »Und ich habe keine Ahnung, wie du nach all diesen Jahren etwas finden willst, das deine Ängstezum Schweigen bringt. Aber ich werde dir helfen, wo ich kann.«
Laura hätte ihre Patentante am liebsten umarmt, aber sie ließ es. »Weißt du, wenn ich zurückblicke, liegt nicht nur meine gesamte Kindheit, sondern auch alles, was mit meinem Vater und seinem Tod zu tun hat, irgendwie im Nebel«, startete sie stattdessen einen neuen Versuch, ihre Situation zu erklären. »Dabei müsste ich doch zumindest eine Meinung haben zu dem, was damals geschehen ist, findest du nicht? Irgendein Gefühl, eine Idee, warum passiert ist, was passiert ist.«
Ihre Patentante sah sie an. »Du meinst, du müsstest wissen, wer deinen Vater getötet hat?«
»Vielleicht nicht unbedingt wissen«, versetzte Laura trotzig. »Aber irgendeine Erklärung müsste sich doch finden lassen. Von mir aus eine falsche Erklärung, aber eine Erklärung. Etwas, das ich mir zurechtlegen und mit dem ich leben kann.«
»Und du kannst dir nicht vorstellen, mit dem .«, Cora zögerte, »... Status quo zu leben?«
»Was genau ist denn bitte der Status quo?«, fuhr Laura auf. »Mein Vater ist tot. Und irgendjemand ist für seinen Tod verantwortlich. Aber so lange niemand weiß, wer das ist, büßen wir alle.« Sie stutzte und wischte sich dann mit einer unwirschen Bewegung die Haare aus der Stirn. Sie hatte einfach drauflos geredet, ohne lange nachzudenken. Aber von wem hatte sie eigentlich gesprochen? Wer büßte dafür, dass die Herrenhausmorde nie aufgeklärt worden waren? Sie selbst? Mia? Das Baby, das sie nächste Woche töten würde? Wer zahlte die Zeche? Und wer trug die Verantwortung? »So, wie die Dinge nun einmal liegen«,resümierte sie mit einem Gefühl bleierner Resignation, »sind Mia und ich die Einzigen, die von Vaters Tod profitiert haben.«
»Womit du voraussetzt, dass das Motiv für die Morde finanzieller Natur gewesen ist«, entgegnete Cora, während sie langsam, Seite an Seite, dem Ausgang entgegen gingen. »Aber wenn die Sache so einfach gewesen wäre, hätte die Polizei den Fall doch eigentlich leicht abschließen können, meinst du nicht auch?«
Je länger Laura über diesen Einwand ihrer Patentante nachdachte, desto plausibler kam er ihr vor. Es hatte zwei Mordopfer gegeben. Und auf der anderen Seite zwei Menschen, die von ihrem Tod profitiert hatten und bis heute profitierten. Es hatte eine Untersuchung gegeben. Aber nie eine Anklage. Weder sie selbst noch ihre Schwester waren je offiziell der Bluttat beschuldigt worden. Warum eigentlich nicht?
»Am meisten quält mich, dass ich mich damals um gar nichts gekümmert habe«, stöhnte sie. »Und als die Sache endlich anfing, mich zu interessieren, war alles längst vorbei und abgehakt.«
»Du bist zu streng mit dir«, befand Cora mit einem raschen Seitenblick. »Immerhin warst du ja fast noch ein Kind damals. Und du hattest durch diese ganze Tragödie einen fürchterlichen Schock erlitten.«
Laura lachte höhnisch auf. »Mein Schwester war diejenige, der sie eine Beruhigungsspritze geben mussten«, versetzte sie bitter.
Doch ihre Patentante schüttelte nur den Kopf. »Die Menschen reagieren nun einmal unterschiedlich«, sagte sie. »Manche schreien, wenn sie sich erschrecken. Andere weinen.Wieder andere handeln völlig irrational.« Sie machte eine kurze Pause, und Laura fragte sich, ob Cora mit diesem letzten Satz wohl auf ihre Schwester angespielt hatte. Auf das, was Mia getan hatte, am Morgen nach der Bluttat. »Und dann gibt es Menschen, die sich einfach in sich selbst zurückziehen, wenn es zu schrecklich wird. So wie du.« Cora Dubois lächelte. »Man hat dir schon als Kind selten angemerkt, wenn dich etwas geärgert oder verletzt hat. Und ...«
»Aber ich habe überhaupt nicht reagiert«, fiel Laura ihr abermals ins Wort. »Auch später nicht. Auch nicht, als ich ganz für mich allein war. Als längst niemand mehr gesehen hätte, wenn ich weine. Oder zusammenbreche.«
»Nicht zu reagieren ist auch eine Reaktion«, entgegnete Cora ruhig. »Vielleicht die gravierendste von allen.«
Laura trat hinter ihrer Patentante durch das verwitterte Friedhofstor und wünschte nichts sehnlicher, als dass sie ihr hätte glauben
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