Blut Von Deinem Blute
können. Aber sie wusste viel zu genau, dass da nichts gewesen war, das sie hätte verdrängen müssen. Keine Trauer. Kein Entsetzen. Nicht einmal Mitleid. Sie hatte ihren Vater nie geliebt und nie verstanden, ebenso wenig wie er sie je verstanden hatte. Und es hatte ihr, verdammt noch mal, nicht leid getan, als er gestorben war.
»Weißt du«, fuhr ihre Patentante unterdessen unbeeindruckt fort, »was den Umgang mit Krisen angeht, erinnerst du mich stark an deine Mutter.« Laura wollte protestieren, doch Cora war schneller: »Oh ja, ich weiß schon, Louisa konnte furchtbar wütend werden und Szenen machen und all das. Aber was die wirklich wichtigen Dinge betraf, reagierte sie ganz ähnlich wie du.«
»Nämlich wie?«, fragte Laura, nur mühsam beherrscht. Ihre Mutter hatte Gedächtnislücken gehabt. Ihre Mutterhatte sich das Leben genommen. Sie wollte nichts mit ihrer Mutter gemeinsam haben! Ganz bestimmt nicht!
»Mit Rückzug.« Cora Dubois räusperte sich. »Bei deiner Mutter sah man oft nur an den Augen, dass etwas nicht stimmte.«
»Glaubst du, dass sie verrückt war?« Die Frage platzte einfach aus ihr heraus. Ohne Überlegung. Ohne Vorwarnung. Einfach so.
»Louisa?« Die ungeheuerliche Annahme, die hinter der Frage ihres Patenkindes steckte, schien Cora nicht im Mindesten aus dem Konzept zu bringen. Sie blieb nicht einmal stehen. »Oh nein, Louisa war nicht verrückt. Und meiner Ansicht nach war sie auch zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens in Gefahr, es zu werden.«
»Aber manchmal hat sie sich doch noch nicht einmal daran erinnern können, wo sie ein paar Stunden zuvor gewesen ist«, wandte Laura ein, und ihr Herz raste vor Aufregung.
»Ach das ...« Cora verzog geringschätzig die Lippen. »Das habe ich nie besonders ernst genommen.«
Aber ich, dachte Laura wütend. Ich habe es ernst genommen, und ich weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, wenn man sich beim besten Willen nicht an etwas erinnern kann, das man eigentlich wissen müsste. Das entscheidend ist für das ganze weitere Leben ... Ihr Blick wanderte über die Promenade vor ihnen, und idiotischerweise musste sie auf einmal an Leon denken. Ein Umstand, der sie verwirrte und gleichzeitig wütend machte. Leon spielte keine Rolle. Warum, zum Teufel, hatte er ihr nicht einfach seine Handynummer gegeben und war verschwunden wie all die anderen vor ihm? Warum tat er so, als amüsiere er sich,wenn sie zusammen auf einer Party waren? Und warum hatte sie sich nicht von ihm getrennt, bevor etwas geschehen war, das sie dazu zwang, sich mit den Schrecken ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen? Noch dazu mit einer Vergangenheit, die löchriger war als ein Sieb?
»Wenn die Zustände meiner Mutter so harmlos gewesen wären, wie du mir weismachen willst«, wandte sie sich in aggressivem Ton wieder an ihre Patentante, »warum hat sie sich dann umgebracht?«
Und auf einmal blieb Cora nun doch stehen. Sie sah Laura direkt in die Augen, und ein neuer, fremder Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Es war ein eigentümlicher Ausdruck, wie ein Anflug plötzlicher Qual.
Laura beobachtete die Veränderung mit Erstaunen. In all den Jahren, die sie einander nun kannten, hatte sie ihre Patentante ausschließlich als jenen ruhigen und gefestigten Menschen erlebt, auf den ihre Mutter sich zeit ihres Lebens blind verlassen hatte.
»Tante Cora, bitte«, flehte sie, als sie spürte, dass ihre Patentante von sich aus nichts sagen würde. »Warum hat Mama sich das Leben genommen?«
Cora zögerte lange, bevor sie sagte: »Ich glaube, das hat sie gar nicht.«
»Nicht?« Laura hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. »Aber was denn sonst?«
Und wieder dieses sonderbare Zögern. »Ich denke, dass es ... Es kann nur ein Versehen gewesen sein.«
»Ein Versehen?«
»Ja, ein Versehen.« Cora Dubois ging weiter. Schneller als bisher. Als wolle sie sich auch räumlich so rasch wie möglich von diesem Thema entfernen.
Doch Laura dachte gar nicht daran, sie so einfach aus der Sache raus zu lassen. »Wie meinst du das?«, fragte sie, indem sie ihre Patentante überholte und sie auf diese Weise zwang, ihr noch einmal in die Augen zu sehen. »Was für ein Versehen?«
»Ich habe nie daran geglaubt, dass deine Mutter sich umbringen wollte«, sagte Cora mit tiefer innerer Überzeugung. »Mag sein, dass sie tatsächlich eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hat. Aber ganz bestimmt nicht mit Absicht.«
8
»Was ist los mit dir? Ist dir nicht
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