Blut Von Deinem Blute
Klinik gekommen war.
»Aber besonders gern male ich Landschaften«, erklärte sie jetzt. »Die Heide ist nicht weit, weißt du. Und es gibt hier so ein ganz besonderes Licht ...« Sie brach ab, als fürchte sie plötzlich, ihn zu langweilen.
»Na ja, vielleicht studierst du ja eines Tages noch Kunstoder so«, schlug Leon mit einer Mischung aus Angst und plumper Hilflosigkeit vor. Angst, dass sie sich auf den Arm genommen fühlte. Angst, dass er sie unter Druck setzte. Angst, dass sie aussprach, wovor er sich am meisten fürchtete: Ich komme nie wieder zurück. Die Welt da draußen ist mir viel zu gefährlich und unstrukturiert, als dass ich es riskieren könnte, noch einmal einen Fuß aus dieser Klinik zu setzen.
Doch seine Befürchtungen bestätigten sich nicht. Im Gegenteil. Seine Schwester klang beinahe stolz, als sie sagte: »Na ja, Adrienne meinte auch schon mal, dass ich mich vielleicht in diese Richtung orientieren sollte.«
»Wer ist Adrienne?«
»Meine Therapeutin. Ich habe ihr ein paar meiner Arbeiten gezeigt. Und sie war ziemlich begeistert.«
Leon überlegte, wie er diese für ihn neue Information werten sollte. Ob es zur Therapie gehörte, die Patientinnen zu motivieren, auch wenn die Ergebnisse künstlerisch gesehen eher mäßig waren. Oder ob vielleicht doch mehr dahinter steckte. Seine Schwester war immer ein Mensch gewesen, der weit mehr zu Tiefstapelei als zu Hochmut neigte. Dafür sorgte schon ihr Perfektionismus, der wahrscheinlich einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Problems darstellte.
»Willst du ... Ich meine, möchtest du vielleicht auch mal was sehen?«, fragte sie in diesem Augenblick so zaghaft, als wolle sie ihm umgehend eine Bestätigung für seine Gedanken liefern.
»Klar«, sagte er. »Sehr gern sogar.«
»Gut, dann schicke ich dir ein paar Bilder per E-Mail.«
»So was geht?«, fragte Leon verblüfft. Irgendwie war er insgeheim davon ausgegangen, dass die Patienten der geschlossenenAbteilung einer psychiatrischen Klinik von allem isoliert waren, was das sogenannte wahre Leben ausmachte.
Wiederum schien Tonia seine Gedanken zu erraten. »Hey«, kicherte sie. »Wir leben hier nicht hinterm Mond. Ich meine, sie achten vielleicht darauf, dass wir uns beim Chatten nicht mit irgendwelchen Typen zum gemeinsamen Selbstmord verabreden. Aber einem nahen Verwandten ein paar Fotos zu mailen ist gerade noch erlaubt. Es sei denn, es handelt sich um pornographisches Material oder die Vorher-Nachher-Fotos von der letzten Gesichtskorrektur unserer Anstaltsleitung.«
»Wenn das so ist«, lachte Leon, heilfroh, seine Schwester einmal wieder ausgelassen zu erleben. »Ich bin gespannt.«
»Erwarte nicht zu viel«, sagte sie, von einem Augenblick auf den anderen wieder todernst. »Die Aufnahmen sind ziemlich schlecht, sodass die Farben total verfälscht rüberkommen.«
Und da war sie wieder: Tonia, die Perfektionistin! »Das macht doch nichts. Ich freue mich drauf.«
»Dann schicke ich sie dir gleich heute Abend, ja?«
»Prima.«
»Und Leon ...«
»Ja?«
Jetzt kicherte sie wieder. »Sieh zu, dass du dir endlich eigene Kinder anschaffst. Ich meine, ich will mich nicht beschweren oder so, aber es wird höchste Zeit, dass du dich mal um jemand anderen kümmerst.«
7
Warum bist du wirklich hier?
Laura fühlte sich fast erleichtert, endlich die Frage zu hören, mit der sie gerechnet hatte, seit sie wieder auf der Insel war. Aber natürlich fiel ihr trotzdem keine passende Antwort ein. Nur die Wahrheit, aber die kam nicht in Frage. Nicht einmal bei ihrer Patentante.
»Ich bin zurückgekommen, weil ich nicht mehr schlafen kann«, versuchte sie es mit einem Teilgeständnis. »Ich habe wirklich alles versucht, um das, was damals geschehen ist, zu vergessen. Aber es gelingt mir einfach nicht. Ich habe fünfzehn Jahre gebraucht, um das zu erkennen, aber jetzt weiß ich, dass ich erst wieder schlafen kann, wenn ich herausgefunden habe, was da nicht stimmt mit meiner Familie. Wenn ich ...«
Sie brach ab, als sie das Brennen von Tränen in ihren Augen spürte. Tränen, die sie auf gar keinen Fall weinen wollte. Sie war nicht traurig gewesen über den Tod ihres Vaters, obwohl alle Welt genau das von ihr erwartet hatte. Sie hatte sich nicht für die näheren Umstände seines Todes interessiert, sie hatte nichts gefragt, nichts wissen wollen über die Tragödie, die sich unter dem Dach ihres Elternhauses abgespielt hatte. Sie hatte ja nicht einmal Angst vorm Verhungern gehabt, wenn die Jungs
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